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Mai 13
Gemeindezeitung Kartitsch
Seite 20
Jeder Mensch in Kartitsch, der
über 20 Jahre alt ist, kann sich
noch an die Hochwasserkatastro-
phen von 1965 und 1966 erin-
nern. Enorme Schäden in Feld
und Wald, an Brücken und Müh-
len verursachten die langen,
schweren Regenfälle und die
hochgehenden Bäche. Aber im
Vergleich zum Schreckensjahr
1882 hatten sie in beiden Jahren
zusammen in Kartitsch nicht sol-
che Schäden angerichtet. In den
Gemeinden des Drau- und des
Iseltales traf das vielleicht nicht
zu, dort hatten Wasserkatastro-
phen auch in den Sechzigerjahren
schrecklich gehaust.
Nun vom Jahre 1882:
Schon von Anfang Jänner an bis
April gab es keine Niederschläge.
Im Februar blühten schon viele
Blumen, denn auf der Sonnensei-
te gab es bis ins halbe Tal hinein
wenig Schneereste. Fliegen und
Mückenschwärme kamen in
Massen auf. In St. Oswald blüh-
ten im März die Kirschbäume,
von denen es damals im ganzen
Dorf bei 28 gab. Bis Josefi (19.
März) war der Frühjahrsanbau
schon vollendet, was kein alter
Mensch sich erinnern konnte und
nach der 400jährigen Chronik
erst zweimal vorgekommen war.
Schon gab es auf den Feldern
(„Müahtö“ = Kühgras) zu mähen.
Um den 25. April fiel in zwei
Tagen fast eine klafterhohe Lage
Schnee, der sich durch die da-
rauffolgende Kälte einen Monat
hielt. Ein nasser und kalter Som-
mer folgte dem Frühjahr.
Als der September kam, stellt
sich anhaltender Regen ein, der
vom 13. bis 17. zu strömenden
Wassergüssen wurde. Auf den
Bergen war eine Elle hoch
Schnee gefallen Die Bächlein
hatten sich zu reißenden Wild-
bächen entwickelt. In Feld und
Wald gingen Murbrüche nieder.
Das Grummet, das auf den Fel-
dern lag, faulte und das nieder-
gebügelte Getreide, das noch
vorhanden und auf den Harpfen
aufgehängt war, bekam lange
Keime. Übrigens hatten starke
Stürme schon eine Anzahl
Harpfen samt der Frucht zu Bo-
den geworfen.
Der Talbach zerstörte Sägewer-
ke und Mühlen, auch ein Häus-
chen, das einer armen Familie
gehörte. Von allen Brücken und
Stegen waren keine mehr vor-
handen, alle hatte das wütende
Element fortgerissen, und Musel
und viele Bretter, die an den
Sägen lagerten, dazu. Fast alle
Tage läuteten die Kirchenglo-
cken Sturm, auch von umliegen-
den Gemeinden.
Doch waren die Menschen, die
wehren und retten wollten,
meistens zu schwach, der wil-
den Gewalt ihre Opfer zu entrei-
ßen. Infolgedessen ergriff die
Leute große Mutlosigkeit und
Angst, sie fürchteten eine Hun-
gersnot kommen, zumal bekannt
wurde, dass die Katastrophe
weit nach Kärnten hinunter und
tief nach Südtirol hinein gleich
schrecklich wütete. Da und dort,
hörte man, sollen auch Men-
schen bei Rettungsarbeiten um-
gekommen sein. In den Kirchen
wurden Gebetsstunden angesetzt
und Wallfahrten und Bittgänge
gelobt, um das Ende der großen
Not zu erflehen.
Am 20. September war es, als die
Bindermutter
wieder
einer
schweren Stunde entgegensah.
Wenigstens die Hebamme, wenn
nicht auch noch ein Arzt, würden
dringend notwendig sein. Der
Gatte von der verängstigten Frau
bat inständig seinen Bruder, die
Geburtshelferin so schnell als
möglich zu holen. „Mein Gott!
Grad vorher hat der Nachbar ge-
sagt, dass keine Brücke mehr
vorhanden ist und du weißt, dass
die Hebamme auf der Schattseite,
beim
Draschltone
wohnt“.
„Uns're liebe Frau, was machen
wir dann?“ „Lass dir vom Nach-
bar helfen. Tragt die lange, starke
Kirchenleiter zum Bach, oberhalb
vom Garberhaus ist die schmalste
Stelle, da langt sie leicht hinüber
und der Bach langt nicht so hoch
herauf“. „Das geht, wenn sich die
Draschlin über die Leiter ge-
traut“, antwortet der Bruder.
Akurat langte die Leiter, und bald
hat Hansl den Bach überquert
und eilt den viertelstündigen Weg
hinaus zur notwendigen Frau.
„Kommt man über den Bach?“
fragt sie besorgt. „Wir haben
schon eine Notbrücke gerichtet“,
lautet die Antwort.
Als aber beide dorthin kommen,
die Frau die tosenden, rauschen-
den, wirbelnden Fluten sieht und
den Leitersteg, schreit sie entsetzt
auf: „Nein, da getrau ich mich
nicht hinüber, um tausend Gul-
Historisches • Historisches • Historisches • Historisches
Das große Unglücksjahr in Kartitsch vor 100 Jahren
Nach Erzählungen und Aufzeichnungen von Oswald Sint (aus dem Jahr 1982)