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12. November: Offizielle Grün-

dung der Republik.

Im Parlament

tagte die „Provisorische National-

versammlung", vor dem Gebäude

am Ring hatten sich bis zum Nach-

mittag mehr als 100.000 Menschen

eingefunden. Um 15.55 Uhr

wurde auf der Rampe das Gesetz

über die neue Staatsform verkün-

det: „Artikel 1: Deutschösterreich

ist eine demokratische Republik.

Alle öffentlichen Gewalten werden

vom Volke eingesetzt. Artikel 2:

Deutschösterreich ist ein Bestand-

teil der Deutschen Republik. ...“

Während in der versammelten

Menge Jubel aufbrandete, stürm-

ten kommunistische Aktivisten die

Rampe, rissen aus den Flaggen die

weißen Streifen heraus, um dann

die roten Fetzen an den Fahnen-

masten hochzuziehen und entroll-

ten ein Transparent mit den Wor-

ten HOCH DIE SOZIALISTI-

SCHE REPUBLIK. Kurz danach

fielen Schüsse, die eine panikartige

Flucht auslösten, bei der zwei Men-

schen zu Tode getrampelt und vier-

zig verletzt wurden. Doch war

weder dieser erste Putschversuch

von Erfolg gekrönt, noch brachten

ein paar weitere, in den Folge-

monaten angezettelte Unruhen

mit Schießereien die Kommunis-

ten ihrem Ziel näher – sie wollten

eine „Räterepublik“ nach sowjeti-

schem Vorbild errichten.

Die Proklamation enthielt einen

Widerspruch – einerseits sollte ein

neuer Staat gegründet werden, an-

dererseits gab man die Eigenstaat-

lichkeit mit dem Verlangen nach

Eingliederung in Deutschland so-

fort wieder auf. Dennoch war der

Anschlussgedanke aus damaliger

Sicht nur logisch, weil niemand an

die wirtschaftliche Überlebensfä-

higkeit Österreichs glaubte. Außer-

dem erhoffte man sich durch diese

Vereinigung, dass der jungen

Republik keines der deutschspra-

chigen Gebiete verloren ginge. Da

(außer Südtirol) fast alle direkt an

Deutschland grenzten, wäre ein

ziemlich geschlossenes Staatsge-

bilde entstanden. Österreich hätte

dann ungefähr zehn Millionen

Einwohner gehabt:

Das „Kernland“ mit etwas mehr als

6 Mio.,

die Gebiete nördlich von Nieder-

und Oberösterreich mit Iglau und

Brünn: 550.000,

Deutschböhmen zählte 2,2 Mio.,

das Sudetenland mit Olmütz

600.000,

Südtirol ebenfalls 600.000.

Doch leider blieb es beim Wunsch-

denken – die nördlichen Gebiete

fielen noch im Jahr 1918 an Tsche-

chien, Südtirol an Italien. Sowohl

diese Grenzziehungen als auch das

Verbot, sich Deutschland anzu-

schließen, wurden schließlich im

Friedensvertrag von St. Germain

festgeschrieben (10. September

1919) und trotz heftiger Proteste der

österreichischen Delegierten nicht

mehr abgeändert. „Was übrig bleibt,

ist Österreich“ – so kommentierte

der französische Ministerpräsident

Georges Clemenceau die Zerschla-

gung des einstigen Weltreiches; nun

hatte sich der zynische Ausspruch

bewahrheitet.

Otfried Pawlin

Quellennachweis:

Manfred Scheuch: „Österreich im 20. Jahrhundert“,

Verlag Christian Brandstätter, Wien, 1. Auflage,

2000, ISBN 3-85498-029-9.

Wilhelm J. Wagner: „Der große Bildatlas zur Ge-

schichte Österreichs“, Verlag Kremayr & Scheriau,

Wien, 1995, kein ISBN.

Die beiden Abbildungen aus dem o. a. Buch von

Manfred Scheuch.

Die ausrufung der republik Deutschösterreich am 12. november 1918 vor

dem Parlament.

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