Gemeindezeitung - page 31

31
D
ie
S
onnseiten
N
ummer
50 - A
pril
2015
C
hronik
E
s gibt dazu zahlreiche
Beiträge in den verschie-
denen Medien; auch zur aktu-
ellen politischen Lage, zu den
diversen Entwicklungen in
Europa, finden jetzt manche
Menschen deutliche Worte.
Aus: Franz Kafka: Ein altes
Blatt; in: Sämtliche Erzäh-
lungen entnehmen wir dazu
passend einen Text, der genau
so treffend in unsere heutige
Zeit hineinpasst, wie in „sei-
ne“ damalige.
(Der jüdische Literat Franz
Kafka wurde am 3. Juli 1883
in Prag, Österreich-Ungarn
geboren und starb am 3. Juni
1924 in Klosterneuburg-
Kierling, Österreich)
„Es ist, als wäre viel ver-
nachlässigt worden in der
Verteidigung unseres Vater-
landes“
Es ist, als wäre viel vernach-
lässigt worden in der Vertei-
digung unseres Vaterlandes.
Wir haben uns bisher nicht
darum gekümmert und sind
unserer Arbeit nachgegan-
gen; die Ereignisse der letzten
Zeit machen uns aber Sorgen.
Ich habe eine Schusterwerk-
statt auf dem Platz vor dem
kaiserlichen Palast. Kaum
öffne ich in der Morgendäm-
merung meinen Laden, sehe
ich schon die Eingänge aller
hier einlaufenden Gassen von
Bewaffneten besetzt. Es sind
aber nicht unsere Soldaten,
sondern offenbar Nomaden
aus dem Norden. Auf eine
mir unbegreifliche Weise
sind sie bis in die Hauptstadt
gedrungen, die doch sehr
weit von der Grenze ent-
fernt ist. Jedenfalls sind sie
also da; es scheint, dass es
jeden Morgen mehr werden.
Ihrer Natur entsprechend,
lagern sie unter freiem Him-
mel, denn Wohnhäuser verab-
scheuen sie. Sie beschäftigen
sich mit dem Schärfen der
Schwerter, dem Zuspitzen
der Pfeile, mit Übungen zu
Pferde. Aus diesem stillen,
immer ängstlich rein gehal-
tenen Platz haben sie einen
wahren Stall gemacht. Wir
versuchen zwar manchmal
aus unseren Geschäften her-
vorzulaufen und wenigstens
den ärgsten Unrat wegzu-
schaffen, aber es geschieht
immer seltener, denn die
Anstrengung ist nutzlos und
bringt uns überdies in die Ge-
fahr, unter die wilden Pferde
zu kommen oder von den
Peitschen verletzt zu werden.
Sprechen kann man mit den
Nomaden nicht. Unsere Spra-
che kennen sie nicht, ja sie
haben kaum eine eigene. Un-
tereinander verständigen sie
sich ähnlich wie Dohlen. Im-
mer wieder hört man diesen
Schrei der Dohlen. Unsere
Lebensweise, unsere Einrich-
tungen sind ihnen ebenso un-
begreiflich wie gleichgültig.
Infolgedessen zeigen sie sich
auch gegen jede Zeichenspra-
che ablehnend. Du magst dir
die Kiefer verrenken und die
Hände aus den Gelenken win-
den, sie haben dich doch nicht
verstanden und werden dich
nie verstehen. Oft machen sie
Grimassen; dann dreht sich
das Weiß ihrer Augen und
Schaum schwillt aus ihrem
Munde, doch wollen sie da-
mit weder etwas sagen noch
auch erschrecken; sie tun es,
weil es so ihre Art ist. Was
sie brauchen, nehmen sie.
Man kann nicht sagen, dass
sie Gewalt anwenden. Vor ih-
rem Zugriff tritt man beisei-
te und überlässt ihnen alles.
Auch von meinen Vorräten
haben sie manches gute Stück
genommen. Ich kann aber
darüber nicht klagen, wenn
ich zum Beispiel zusehe, wie
es dem Fleischer gegenüber
geht. Kaum bringt er seine
Waren ein, ist ihm schon al-
les entrissen und wird von
den Nomaden verschlungen.
Auch ihre Pferde fressen
Fleisch; oft liegt ein Reiter
neben seinem Pferd und bei-
de nähren sich vom gleichen
Fleischstück, jeder an einem
Ende. Der Fleischhauer ist
ängstlich und wagt es nicht,
mit den Fleischlieferungen
aufzuhören. Wir verstehen
das aber, schießen Geld zu-
sammen und unterstützen ihn.
Bekämen die Nomaden kein
Fleisch, wer weiß, was ih-
nen zu tun einfiele; wer weiß
allerdings, was ihnen ein-
fallen wird, selbst wenn sie
täglich Fleisch bekommen.
Letzthin dachte der Fleischer,
er könne sich wenigstens die
Mühe des Schlachtens spa-
ren, und brachte am Morgen
einen lebendigen Ochsen.
Das darf er nicht mehr wie-
derholen. Ich lag wohl eine
Stunde ganz hinten in meiner
Werkstatt platt auf dem Bo-
den und alle meine Kleider,
Decken und Polster hatte ich
über mir aufgehäuft, nur um
das Gebrüll des Ochsen nicht
zu hören, den von allen Sei-
ten die Nomaden ansprangen,
um mit den Zähnen Stücke
aus seinem warmen Fleisch
zu reißen. Schon lange war es
still ehe ich mich auszugehen
getraute; wie Trinker um ein
Weinfass lagen sie müde um
die Reste des Ochsen.
Gerade damals glaubte ich
den Kaiser selbst in einem
Fenster des Palastes gese-
hen zu haben; niemals sonst
kommt er in diese äußeren
Gemächer, immer nur lebt
er in dem innersten Garten;
diesmal aber stand er, so
schien es mir wenigstens, an
einem der Fenster und blickte
mit gesenktem Kopf auf das
Treiben vor seinem Schloss.
»Wie wird es werden?« fra-
gen wir uns alle. »Wie lange
werden wir diese Last und
Qual ertragen? Der kaiser-
liche Palast hat die Noma-
den angelockt, versteht es
aber nicht, sie wieder zu ver-
treiben. Das Tor bleibt ver-
schlossen; die Wache, früher
immer festlich ein- und aus-
marschierend, hält sich hinter
vergitterten Fenstern. Uns
Handwerkern und Geschäfts-
leuten ist die Rettung des Va-
terlandes anvertraut; wir sind
aber einer solchen Aufgabe
nicht gewachsen; haben uns
doch auch nie gerühmt, des-
sen fähig zu sein. Ein Miss-
verständnis ist es; und wir
gehen daran zugrunde.
1945: Vor 70 Jahren ging der 2. Weltkrieg zu Ende
1915: Vor 100 Jahren erklärte Italien
Österreich/Ungarn den Krieg
„Geh über Wörter wie über ein Minenfeld:
ein falscher Schritt,
eine falsche Bewegung,
und alle Wörter,
die du ein Leben lang auf deine Adern gefädelt hast,
werden mit dir zusammen in Stücke gerissen“.
Abraham Sutzkever (1913-2010)
1...,21,22,23,24,25,26,27,28,29,30 32,33,34,35,36,37,38,39,40,41,...52
Powered by FlippingBook