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Angst schlich in mir hoch, be-
gründete Angst, denn das Un-
heil nahte auf Riesenschritten.
Der Bauer kam anstelle meiner
Mame. Ohne lange zu reden
und zu erklären schlug er mir
seine Riesenpranke direkt ins
Gesicht. Unvorbereitet traf
mich seine Hand und die Wucht
des Aufpralls ließ mich tau-
meln. Erschrocken, geradezu
entsetzt, wich ich zurück.
Davon unbeeindruckt, aber
furchtbar verärgert, packte
mich der Bauer am neuen Jan-
ker und schubste mich Richtung
Hof und ich verstand auch ohne
Worte, dass er keine, aber auch
gar keine Widerrede duldete.’“
Wartete Ihr Vater auch als
Jugendlicher noch auf seine
Mutter?
Girardelli:
„Ja. Er erzählte
mir:
‚Vierzehn Jahre alt war ich
dieses Jahr geworden, am 13.
November, und immer noch ge-
hörte ich wie ein Stück Vieh zu
diesem Hof und immer noch
wartete ich auf das Wunder, auf
meine Mame, die nicht eintref-
fen wollte. Bis Weihnachten
dauerte es nun auch nicht
mehr lange, ein Fest, auf das
ich das ganze Jahr wartete. Die
Christmette war das Besondere
an Weihnachten. Da erzählte
der Pfarrer vom Kindlein in der
Wiege, von Maria und Josef, die
es beschützten und liebten.
Vorne beim Altar war eine
Krippe aufgebaut. Im Schein
der flackernden Kerzen begann
das liebliche Gesicht der Mut-
tergottes nicht nur einmal die
Gesichtszüge meiner Mame an-
zunehmen. Beim Religionsun-
terricht hatte der Pfarrer ge-
sagt, dass man dem kleinen Je-
suskind
die
geheimsten
Wünsche und Träume anver-
trauen kann und diese beson-
dere, einmalige Gelegenheit
wollte ich nutzen. Während der
gesamten Christmette ließ ich
keine anderen Gedanken zu. Ich
erzählte dem Jesukind von mei-
ner Traurigkeit und ich bat das
Kindlein mir endlich, nach so
vielen Jahren, meinen einzigen
Wunsch zu erfüllen. Alles ver-
sprach ich ihm, dass ich wäh-
rend der Messe nicht mehr ein-
schlafen würde, dass ich keine
Milch und keine Eier mehr mit-
gehen lassen würde und dass
ich den Bauern nie mehr ver-
fluchen und verwünschen
würde. Das Christuskind
musste einfach den Handel mit
mir eingehen, ansonsten war
ich wieder ein ganzes, langes
Jahr alleine und um dieses
Schicksal von mir abzuwenden,
hätte ich mein Leben verwettet.
Als ich nach dem Segen wieder
heimwärts trottete war ich vol-
ler Hoffnung und Zuversicht.
Alles würde wieder gut werden,
und die Füße wandelten sich zu
Flügeln und meine Gedanken
würden den Weg zu meiner
Mutter finden. Leider ist mein
einziger Wunsch nicht in Erfül-
lung gegangen, aber die Hoff-
nung und dieser besondere
Traum haben mir geholfen, am
Leben zu bleiben und auf das
Gute zu warten.’“
Der Wunsch ist letztendlich
nie in Erfüllung gegangen?
Girardelli:
„Nie. In dem
Buch schrieb ich:
‚Gestützt auf
meinen Stock lehne ich am
Zaun, der den steilen Weg zum
Hocheggerhof absichert. Die
Sonne sendet ihre wärmenden
Strahlen auf das alles bedeu-
tende Stück Erde. In der fast
ausgetrockneten Pfütze vor mei-
nen Augen spiegelt sich der
weite Himmel mit den weißen
Wolken, die ein weiteres Mal
davonziehen. Ich höre den Stra-
ßenlärm, der jedes andere Ge-
räusch zu überdröhnen scheint,
und ich höre die Kuhglocken,
die gleichmäßig, in ihrem eige-
nen Rhythmus erklingen…Und
ich warte, wie damals vor 81
Jahren, dass meine Mame mich
abholt, dass sie mich nicht al-
lein und hilflos in dieser frem-
den Welt zurücklässt… Auf dem
Weg zum Hof, zwischen dem
großen Stein und dem alten Gat-
ter werde ich auf sie warten.
Aber dieses eine Mal werden
meine Träume Wirklichkeit wer-
den und wie ein helles Licht in
der Nacht, wie ein Sonnenstrahl
in der größten Kälte, so wird sie
endlich auftauchen. Wo warst du
denn so lange, Hansile? Komm,
wir gehen nach Hause. Sie wird
mich an die Hand nehmen und
gemeinsam werden wir den
steilen Steg hinuntergehen.
Dann wird alles, was in meinem
Leben geschah nicht mehr wich-
tig sein und meine traurige, ver-
lassene Seele wird endlich ihren
Frieden finden…’“
PORTRAIT
PUSTERTALER VOLLTREFFER
DEZEMBER 2012/JÄNNER 2013
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„Hansl“ konnte die schlimmen Erlebnisse gemeinsam mit seiner
Tochter Rosalma (r,) in seinen letzten Lebensjahren aufarbeiten.
Verlossn
als Kind von der Mutter
weggegeben
Verlag Athesia, 144 Seiten,
24,0 x 16,5 cm, gebunden,
ISBN: 978-88-8266-891-4,
Preis: 16,90 €
Rosalma Girardelli aus Bruneck
erzählt in diesem Buch das
Leben ihres Vaters. Als lediges
und ungewolltes Kind kam er
1923 in Meran zur Welt. Seine
Mutter war Italienerin, die im
Hause seines vermeintlichen,
leiblichen Vaters als Dienst-
magd tätig war. Als sie Südtirol
verließ und nach Kanada aus-
wanderte, ließ sie ihren kleinen
Buben zurück. Verlassen und
auf sich gestellt wuchs er auf
einem Bauernhof im Norden
Südtirols auf, in einer Heimat,
die nie die seine war.