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Nummer 10 –– 69. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r
lets „Berger gardant son troupeau“ sicht-
bar. Diese Anregungen waren ihm nach-
haltige Erfahrungen. Egger-Lienz war aber
imstande, aus der individuellen Kleinsicht
der Nachahmung zur eigenen gedank-
lichen Weitsicht zu gelangen. In diesen für
das menschliche Dasein elementaren
Motiven lässt Egger-Lienz die ganze Trag-
kraft seiner Gedankenwelt wirksam wer-
den. Orientierung gaben ihm Zeichnungen
von Käthe Kollwitz oder Menschenbilder
des Finnen Alex Gallén-Kallela, Ausein-
andersetzungen boten auch Gemälde von
Edvard Munch und Ferdinand Hodler, her-
ausfordernd wirkten auch die Bildwerke
der französischen Impressionisten – man
denke an Eggers lichtdurchflutetes Aqua-
rell der „Maisernte“ (um 1920, TLMF).
Seine Gegenposition gegenüber den öster-
reichischen Malern etwa der Neukunst-
gruppe mit Schiele, Kokoschka und
Faistauer wird aber ebenfalls deutlich.
Die gedanklichen Bildinhalte beim
„Totentanz“ (ab 1906), dem der Zug der
Männer „Nach dem Friedensschluss“
(1902, MSB Lienz) voran ging, weiten
sich bis hin zum „Finale“ (1918, Samm-
lung Prof. Dr. Rudolf Leopold, Wien), zur
„Christi Auferstehung“ (1924, TLMF) und
des „Toten Christus“ (1926, MSB Lienz)
aus, begleitet von den „Kriegsfrauen“
(1918/1922, MSB Lienz), den „Müttern“
(1922/1923, TLMF), den „Alten“
(1912/14, MSB Lienz) und den „Genera-
tionen“ (1918/1919, Sammlung Prof. Dr.
Rudolf Leopold, Wien). Es ist das
Schicksal, das unausweichliche Span-
nungsfeld zwischen Werden und Ver-
gehen, zwischen Leben und Tod; es ist die
Allgegenwart des Leides, der Not, der
Ausweglosigkeit, der Bitternis und der Iso-
lation; es ist der Zwang des Daseins. Im
„Totentanz“ klingt noch die Bewegung des
Schreitens an, in den späten „Gedanken-
bildern“ ist nur mehr die statische Ruhe
wirksam. Auch im „Tischgebet“ umgibt
die Leere der Bauernstube die Betenden.
Die Motive der „Mütter“, des „Tisch-
gebets“ und der „Auferstehung“ werden
eigentlich erst nach dem „Finale“ erklärbar.
Toten-
tanz 1809,
1916.
Kriegs-
frauen,
1918 bis
1923.
Das „Finale“ ist zweifellos das zentrale
Werk im Œuvre von Egger-Lienz, mit
dem er in die Kategorie des deutschen
Expressionismus eintaucht und zugleich
zu einem Mahner gegen den Krieg wird.
Der Vergleich mit Max Beckmann oder
Otto Dix verdeutlicht bei Egger-Lienz eine
andere, veristische Sichtweise des Todes.
Hier schiebt sich „Die Arbeit“ oder „Der
Mensch“ (1912-1914) ein (in der Ausstel-
lung mit grafischen Studien belegt), eine
Demonstration des Werdens und Ver-
gehens, des Menschen, der Alten, der Ar-
beit, aber auch der Lebensabschnitte in der
Natur und im Tagesablauf. Die Orientie-
rung im Formalen auf die heroisierende
Kompositionschemata des Schweizer
Malers Ferdinand Hodler wird spürbar.
Egger-Lienz bleibt aber der um die Exis-
tenz des Menschen Ringende und verläuft
sich nicht in die Parallelität der Schönli-
nigkeit und das leuchtende Kolorit des He-
roischen. Die im Boden kauernden und
von der Erde umschlossenen Körper fin-
den sich in „Den Namenlosen 1914“
(1916), im „Totenopfer“ (1918) und in der
„Missa eroica“ (1918) wieder. Die Beto-
nung des Plastischen, des in sich ge-
Bergmähern, Schnittern, ruhenden Hirten
oder dem Mittagessen vermittelt eine an-
dere Welt. Die Tätigkeit der Bauern, die
positive Lebenseinstellung, die Gemein-
schaft im Alltag des „Mittagsessens“ (um
1920, TLMF) oder die Eigenexistenz in
der „Quelle“ (1924, TLMF) zeigen die
Vielfalt des Genres. So erscheinen diese
Motive in den Gleichklang der Men-
schenschilderung bei Egger-Lienz einge-
woben zu sein. Diese Genremotive sind in
Wiederholungen nach von Egger-Lienz
früher konzipierten Kompositionen evi-
dent, erinnern etwa an die Erstfassungen
der „Bergmäher“ von 1907 oder des „Mit-
tagessens“ von 1908; sie spiegeln aber
ebenfalls deutlich die Facetten der Ar-
beitsweise und der Auftragssituation
wider. In Erinnerung an frühe Motive sind
auch die Aquarellfassungen von Details
wichtiger Bildkonzepte wie dem Sä-
mann, den Bauern im „Totentanz“ oder
den Schnittern entstanden und als Auf-
tragsarbeiten oder als Vorräte zum Ver-
kauf zu verstehen. Darin wird die ganze
Spannweite der Persönlichkeit von
Egger-Lienz wach: nicht nur die künstle-
rische Wertigkeit und Dimension, sondern
schlossenen Volumens, der an der Ober-
fläche gespannten Körper, der kubischen
Rhythmen, der Verkürzungen und Ver-
zerrungen ist zum zentralen Konzept der
Figuration geworden. Erst im „Finale“
wird diese von Innen gebaute Körperlich-
keit in eine organische Deformation ge-
wandelt. Die Brutalität des Todes – in
Erinnerung an die Massengräber des Ers-
ten Weltkrieges – ist als Bildthema bis in
unsere Tage aktuell, erschütternd, mah-
nend, anklagend, in der Dramatik leider
wahr. Seit diesem Gemälde haben sich die
Gesichter seiner Menschen verändert, sie
sind in ihrer Wahrheit zu stillen Zeitzeu-
gen geworden; sie sind Mahner und Bot-
schafter des Leides und des Todes, sind
allgegenwärtige Akteure des Zornes
gegen den Krieg. Es sind introvertierte
Seher, stumme Beobachter einer unheil-
vollen Welt. Diese Dimension wird bis zur
„Pietà“ (1926) tradiert.
Egger-Lienz zeigt neben den Zwängen
im menschlichen Schicksal auch die le-
bensfrohe Seite der bäuerlichen Welt. Das
leuchtende Kolorit in den Motiven mit den