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Seit die Kirche im späten 10. Jahrhundert
ein förmliches Kanonisationsverfahren
entwickelt hatte, war ein Kontrollinstru-
ment geschaffen, welches das Heiligwer-
den erschwerte. Als wichtigstes Kriterium
schälte sich das Wunder heraus, wodurch
die Heiligmäßigkeit eines Kandidaten und
die Echtheit seiner Gebeine bezeugt wur-
den. Trotz sogenannter Authentiken, fin-
gerbreiter Pergamentstreifen mit dem
Namen der Heiligen, von denen die Reli-
quien stammten, war aber keine Sicherheit
gegen Fälschungen gegeben.
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Ein Blick auf das Reliquienverzeichnis
im Lienzer Weihebericht von 1204 lehrt,
dass auch St. Andrä einige fragwürdige
Stücke hatte, z. B. die Partikel des Prophe-
ten Zacharias. Er lebte um 520 v. Chr. und
erst rund 600 Jahre später nennen die apo-
kryphen Vitae Prophetarum (vor dem
2. Jhdt. n. Chr. entstanden) sein Grab.
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Wer
mag denn wirklich glauben, dass das Knö-
chelchen oder was es sein mag, das 1.100
Jahre darauf in der Lienzer Pfarrkirche war,
vom echten Propheten Zacharias stammt?
Wesentlich problematischer sind die Re-
liquien von Jesus und Maria. Da beide
leiblich in den Himmel aufgefahren bzw.
aufgenommen sind, gibt es von ihnen
keine eigentlichen Primärreliquien, son-
dern nur eher geringwertige Teile wie
Haare,
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Zähne und Nägel, von Christus
noch die Nabelschnur, die Vorhaut, Trä-
nen und sein am Kreuz vergossenes Blut,
das dem ganzen Mittelalter viel wichtiger
war als das eucharistische. In der Marien-
verehrung spielte die Milch der Gottes-
mutter eine herausragende Rolle. Sekun-
därreliquien gab es von beiden zuhauf: Ge-
brauchsgegenstände, Krippe, Gewand
und, was von großer Bedeutung war, bei
Jesus alles, was mit seiner Passion zu-
sammenhing wie Kreuz, Dornenkrone,
Schwamm, Longinus-Lanze, Nägel.
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Die begehrten Jesus- und Marienreli-
quien riefen skrupellose Fälscher auf den
Nummer 2 – 72. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r
Reliefstein aus weißem Marmor mit dem Lamm als Symbol Christi, Kreuzstab und
Fahne, heute über dem rechten Seitenportal von St. Andrä, 50 x 69,5 cm.
Weißer Marmorstein mit dem Motiv eines glatten Kopfs, dem wohl
abwehrende Wirkung zugeschrieben wurde; heute über dem linken Seitenportal
eingemauert, 53 x 28,5 cm.
Sog. Kämpfer,
ehemaliges
Zwischenstück
zwischen einer
Säule mit
Kapitell und
einem gemauer-
ten Bogen, mit
dem Motiv eines
Kopfes an der
Vorderseite;
die Höhe be-
trägt 37 cm, die
größte Länge
67,5 cm, die
Breite 26,5 cm,
Durchmesser
des Säulen-
ansatzes 20 cm
(heute in der
Gruft).
Plan. Es gab im Mittelalter keine Kirche,
die, wenn sie etwas auf sich hielt, nicht eine
Kreuzpartikel besessen hätte,
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und die
Fläschchen oder Phiolen mit der Milch der
heiligen Jungfrau sind Legion. Dass bei der
Masse solcher Heiltümer nur Betrug herr-
schen konnte, erbitterte redliche Männer
wie den Volks- und Wanderprediger
Bernhardin von Siena (1380 bis 1444). Er
wetterte: „Es gibt Leute, die zeigen als Re-
liquien Milch der Jungfrau Maria. Ja hun-
dert Kühe haben nicht so viel Milch, als
man von Maria auf der ganzen Welt zeigt.
[...] So zeigt man auch viele Stücke vom
Holz des Kreuzes Christi; sechs Paar Och-
sen vermöchten die Last nicht zu ziehen,
wenn man alle zusammenfügte. Das ist
Machwerk von Betrügern.“ Luther sagte
ironisch in einer Predigt zum Fest Kreuz-
erhöhung (14. September 1522), wenn man
alle Splitter vom heiligen Kreuz in der Welt
zusammenlege, könnte man davon ein
Haus bauen.
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St. Andrä reihte sich 1204 würdig unter
die stolzen Besitzer solcher bedenklichen
Reliquien ein, konnte es sich doch rühmen,
einen Kreuzsplitter, Partikeln von den Ge-
wändern Christi und Marias, eine Reliquie
vom Grab des Herrn, einen Span vom
Tisch der heiligen Jungfrau zu haben.
Schwierigkeiten bereitet die Reliquie der
Jungfrau Anafreda im St. Oswaldaltar. Im
kirchlichen Kanon der Seligen und Heiligen
gibt es keine Anafreda. Weder die Biblio-
theca hagiographica
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noch die Bibliotheca
Sanctorum
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erwähnen sie. Die Vorsilbe
Ana passt nicht zu einem germanischen
Namen. Höchstwahrscheinlich handelt es
sich um eine Verschreibung für Ans, ein ge-
läufiger Bestandteil fränkisch-deutscher
Namen wie Ansbald, Ansbert, Ans(h)elm,
Ansgar, Anstrud.
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Es begegnet auch Ans-
frid (Ansfredus), die weibliche Form dazu
ist Ansfrida, Ansfreda.
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Es gibt einen seli-
gen Ansfrid,
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aber dieser kann nicht ge-
meint sein, da in der Weihenotiz nach Ana-
frede der Zusatz virginis steht. Wie Ana-
freda erscheint auch Ansfreda in keinem
Werk über Selige und Heilige. Förstemann
erwähnt eine Ansifrida im Merowingerreich