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die Separierung von Kopf und Leib. Bis
zum 10. Jahrhundert bestand die Masse der
Heiltümer aus Sekundär- bzw. Berührungs-
reliquien. Man versteht darunter alles, was
ein Heiliger besessen, berührt oder bespro-
chen hat, sowie alles, was im oder auf dem
Grab verwendet wurde (Tücher, Salbenöl,
Staub von der Abdeckplatte des Grabes
usw.). Die körperlichen Überreste werden
als Primärreliquien bezeichnet. Die Vielzahl
von Partikeln, die durch die Teilung der
Leichname seit dem 10. Jahrhundert ent-
standen, sind ebenso heilsam und wunder-
tätig wie der ganze Körper der Heiligen.
Dome, Kirchen, Kapellen, Stifte und
Klöster, geistliche und weltliche Herren,
bald auch reiche Bürger suchten eine mög-
lichst große Reliquiensammlung zu haben,
um sich in den vielen Gefahren des Lebens
Sicherheit zu schaffen. Die bedeutendsten
Heiltümer wurden zu bestimmten Zeiten
den Gläubigen in einer Schau präsentiert.
Als sich im Spätmittelalter der Reliquien-
kult mit Ablässen verband, konnte man im
Extremfall Millionen an Jahren Nachlass
der Sündenstrafen erwerben. Zwei Beispiele:
Der sächsische Kurfürst Friedrich der
Weise, der Beschützer Luthers, besaß 1520
zu Wittenberg 18.970 Partikeln mit insges-
amt fast zwei Millionen Jahren Ablass. Der
Kurfürst, Kardinal und Mainzer Erzbischof
Albrecht von Brandenburg überbot ihn in
Halle. Im Jahr 1520 konnte er dort 8.133
Reliquien mit 39,245.120 Jahren Ablass
vorweisen, ein Jahr später hatte sich die
Zahl der Partikeln mit 21.441 fast verdrei-
facht.
Wie bescheiden wirkt dagegen das Reli-
quienverzeichnis von St. Andrä zu Lienz
im Jahr 1204. Allerdings hatte damals die
Sammelwut noch nicht um sich gegriffen.
Doch blieb auch Osttirol später nicht davon
verschont. Nach einer Auflistung aus dem
17. Jahrhundert besaß die Schlosskapelle
St. Laurentius zu Heinfels rund 150 Heil-
tümer. Die Masse (90 Stück) stammte vom
Grafen Johann Meinhard von Görz († 1430)
und betraf kleinste Teile verschiedener Hei-
liger, darunter seltsame Dinge zu Jesus und
Maria wie das Heilige Blut, einen Dorn aus
der Krone Christi, einen Teil vom Stein, auf
dem Jesus gefangen wurde, einen Teil vom
Felsen, der sich bei seinem Tod spaltete, je
eine Partikel vom Kleid Mariens und von
ihrer Spinne, ein Stückchen „von unnsers
Herrn Trit, da er ist ganngen an Carfreitag
zu der Marter“. Weitere 57 Reliquien
waren im Laurentius- und Katharinenaltar,
dazu kamen noch zwei Heiltümer von
St. Elisabeth, nämlich ein Kissen und ein
kleiner Kamm, womit sie die Armen zu
kämmen pflegte.
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Kein Zweifel, hierunter sind höchst be-
denkliche Stücke. Doch damit war man in
bester Gesellschaft. Unter den Reichklein-
odien, die seit 1424 in Nürnberg aufbe-
wahrt und bis 1523 alljährlich dem Volk
gezeigt wurden, befanden sich unter ande-
rem folgende mit Ablässen verbundene Re-
liquien: ein Kreuzsplitter, ein Span von der
Krippe Jesu, ein Stück vom Schurztuch
Christi, Glieder aus den Ketten, mit denen
Petrus und Paulus gefesselt waren, das
Tischtuch vom Letzten Abendmahl, fünf
Dornen aus der Krone Christi. Im ehemali-
gen Benediktinerkloster St-Riquier in der
Diözese Amiens verwahrte man Stücke
vom Mantel und von den Sandalen
Christi, etwas vom Brot, das er an seine
Jünger ausgeteilt hatte, Milch von der Jung-
frau Maria, Haupthaare Johannes‘ des Täu-
fers und Barthaare Petri, mit Blut befleckte
Steine, mit denen der hl. Stephan gesteinigt
worden war, und vieles andere mehr.
Die Reliquieninflation des Spätmittelal-
ters zeigte auch andernorts recht bizarre
Züge. So rühmten sich verschiedene Kir-
chen des Abendlandes, Christi Atem in
einer Flasche, ferner seine Tränen und sein
Blut zu besitzen, Marias Milch zu hüten,
Erde vom Acker, auf dem Adam erschaffen
worden war, und Teile des brennenden
Dornbuschs, aus dem Gott zu Moses ge-
sprochen hatte (Exodus 3, 2 ff.), vorweisen
zu können. Den ungenähten Rock Christi
bei der Kreuzigung wollten gleich 20 ver-
schiedene Orte haben. Die Menge der an-
geblich echten Grabtücher des Herrn ver-
wundert sehr. Sogar einen Backenzahn
Goliaths und die Spitze vom Schwanz
Luzifers konnte man zeigen. Ein dreister
Ablasskrämer erfrechte sich, eine Phiole
herumzutragen und dabei lauthals zu ver-
künden, in ihr sei der Klang von König
Salomos Glocken eingeschlossen.
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Jedem, der einigermaßen bei Verstande
war, musste angesichts solcher haarsträu-
bender Dinge klar sein, dass Scharen von
Betrügern und Fälschern und sonstige
zwielichtige Gestalten am Werke waren,
um mit Lügengeschichten und gefälschten
Reliquien dem Volk, aber auch der Geist-
lichkeit, hohen Damen und Herren und an-
deren Laien das Geld aus der Tasche zu
ziehen. Zweifel, Misstrauen und Kritik an
Heiligenviten, Wunderberichten und Reli-
quienverehrung setzten schon in der Spät-
antike ein und hielten das ganze Mittelalter
hindurch an. Ernsthafte Theologen wurden
nicht müde, die Auswüchse im Reliquien-
kult, die nicht selten in magische Praktiken
mündeten, zu geißeln und vor unverant-
wortlicher Leichtgläubigkeit und alberner
Wundersucht zu warnen. Nicht wenige
Tadler, vor allem die Humanisten, die mit
formalen und sachlichen Kriterien den Hei-
ligenlegenden und Reliquien zu Leibe rück-
ten, Spott und Hohn darüber ausschütteten
und nur eine verinnerlichte Zuwendung zu
den Heiligen gelten ließen, übersahen je-
doch die „religionsgeschichtliche Logik“,
auf welcher der Heiligen- und Reliquien-
kult ruht, und dass hinter allen Äußerlich-
keiten einer ausufernden Frömmigkeit des
Spätmittelalters fast immer echtes Heils-
verlangen und tiefe Religiosität steckten,
welche die Gläubigen in Massen zu Wall-
fahrtsstätten strömen und Trost, Schutz und
Hilfe bei den Reliquien suchen ließen.
O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
72. Jahrgang – Nummer 2
Die beiden steinernen romanischen Portallöwen von St. Andrä, die sich ursprünglich wohl beim südseitigen Nebeneingang befunden
haben; die Höhe beträgt bei beiden 46 cm, die Länge des linken Löwen 90 cm, des rechten 82 cm, der Durchmesser der Säulenauf-
lage ca. 35 cm.
Romanisches Säulenkapitell mit später auf-
gesetztem Weihwasserbecken; das Kapitell
mit einer Höhe von 21 cm zeigt drei Köpfe
(ein Kopf zerstört) und vier Rosetten (eine
Rosette zerstört); der 86 cm hohe Säulen-
schaft mit Kapitell befindet sich heute in
der Gruft der Pfarrkirche St. Andrä.