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OSTTIROLER
NUMMER 3/2005
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HEIMATBLÄTTER
richtig wird das gespannte Seil, das der
vorwärts strebende Knecht Jesus um die
Mitte, sich selbst aber über die Schulter ge-
legt hat, zum Vektor einer dieses Kräfte-
messen überwindenden Anstrengung.
Nicht einmal der Pfeiler zwischen den
Jochen vermag sich ihr entgegenzustellen.
Der Prospekt dehnt sich aus auf die nächste
Szene. Dort reißt man Jesus den Rock vom
Leib,
„der nun aber in seine wunden was
pachen und erhörtet in dem plut.“
Kein
Wunder, dass bei dieser Aktion erneut die
Wunden am ganzen Körper aufplatzen.
Es wurde gelegentlich bemerkt, dass der
Bildhintergrund zur Entkleidung eine
„Atmosphäre von Kälte“ verbreite.
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Aller-
dings ist darin keine Metapher für die in
den Physiognomien nicht ausgesprochene
Härte und Grausamkeit der Soldaten zu
suchen. Der Traktat bietet eine plausiblere
Deutung:
„Sprechent die natürlichen
meyster das in der wirme ein große wunde
sey klein ze schäczen gegen einer kleinen
in der kelte. Also thet christo der frost an
seinen wunden als wee das er erzitteret.“
Die Kreuzigung schließlich erfolgt nach
allen Regeln der Kunst – mit der Ein-
schränkung, dass man die Bohrungen für
die Nägel zu weit voneinander angebracht
hat und Jesu Leib nun mit Stricken ge-
dehnt werden muss. Dass Arme und Beine
dabei nicht zerbersten, verdanken sie
lediglich der
„weissagung von dem oster-
lamb, die da spricht, das kein beyn solt von
im geminderet werden.“
(vgl. Joh. 19,36).
Um seine krausen Einfälle zu autorisieren,
scheut der Verfasser des Textes sich nicht,
die Hl. Schrift zu verdrehen!
In dieser Szene scheint sich die man-
gelnde Verbindung zwischen Handlung
und Raumgrund an jenem Schergen zu
rächen, den seine Arbeit so merkwürdig in
die Luft steigen lässt. Halt bietet lediglich
ein Stein oder Felsen – je nach dem, wel-
cher der abrupt hintereinander gestaffelten
Ebenen man ihn zurechnen will – und
stellt uns deutlich vor Augen: Das Konti-
nuum führt nicht in die Tiefe einer Raum-
illusion, es entwickelt sich in die Breite,
um die Erzählung durch Takt (Interkolum-
nium) und Bewegung (Raumgrund) zu
ordnen. Beinahe alles konzentriert sich in
der Beweinung auf den in das linke untere
Bildeck gesunkenen Leichnam. Nach der
anderen Richtung aber wendet sich eine
Frau, die schon das Salbgefäß für die
darauf folgende Grablegung bereithält.
Auch dort löst sich eine der Trauernden
aus der Gemeinschaft, um Jesu Abstieg zur
Hölle betend zu erwägen:
„Also bitt ich
dich guter herr jhesu criste, wann unser
selen von unserm leiben scheyden das du
in nicht von sunder bey seiest und sy mit
dir fürest czu deinen ewigen freuden.“
Naturgemäß widersetzt sich der bildüber-
greifende Zusammenhang einer Ausprägung
in sich geschlossener Szenen, mit Ausnahme
der Schildbögen, deren Konvergenz die
Zentrierung der Kompositionen begünstigt.
In Jesu Einzug in Jerusalem markiert ein
Baum jene Mittelachse, welche – leicht
variiert – in der Lazarusszene den Aufer-
weckten aus dem Grab förmlich zu ziehen
scheint. Als durch den Scheitel des Gewöl-
bes gezogene Orthogonale erzeugt sie zu-
gleich einen mächtigen Raumsog. Trotzdem
ist das Geschehen nicht aus der Tiefe des
Raumes entwickelt, vielmehr durch flächen-
wirksame Kräfte geformt. Nicht die von den
flankierenden Beobachtern und dem Blick
des Betrachters gebildete Gasse verursacht
das Wunder, weshalb auch ein Vergleich mit
der gleich namigen Tafel aus Michael
Pachers St. Wolfgang-Altar, wo das Ereignis
geradezu zur Bedingung der Bildtiefe wird,
nicht angebracht ist. (Die Auferweckung des
Lazarus ist im Traktat nicht weiter beschrie-
ben und deshalb erst recht nicht durch einen
Holzschnitt verbildlicht. Dem Verfasser aber
gilt sie als Anstoß zu Jesu Ergreifung und
weiteren Leidensgeschichte.)
Anders als eben bei Michael Pacher ge-
langen die handelnden Personen und der
Blick des Betrachters auf je verschiedene
Weise in einen Raum. Das zeigt sich an drei
aufeinander folgenden Szenen, die, inhalt-
Gegenüberstellung der Szenen Kreuztragung – Entkleidung Christi und Kreuznagelung (Fotos: Christof Gaggl; die Holzschnitte aus:
Albert Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke, Bd. IV, Leipzig 1921, Taf. 82 - 84).