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zusammenfassen, bilden in Obermauern
den Raumgrund. Er begreift die sichtbaren
Dinge als natürliche Erscheinungsweisen
des Lichtes, das daher auch nicht – wie in
der gotischen Kathedrale – „übernatür-
lich“
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, sondern „naturalistisch“ gemalt ist.
Sein Verhältnis zur Bildhandlung, die
ebenfalls zeilenweise über die beiden
Joche erzählt wird, bleibt aber unbestimmt.
Maßwerkimitationen vermitteln zwischen
Architektur und Malerei, deren ästhetische
Grenze zum architektonischen Raum aus
gedrehten Säulchen und Simsen ein Gitter
aufbaut, das die Leidensgeschichte in ein-
zelne Bildfelder gliedert. Eliminiert man –
gedanklich – diese Kulissen, leidet außer
dem Raumbild auch die Erzählung.
Was dann übrig bliebe, erinnert in we-
nigstens zwanzig der insgesamt fünfund-
zwanzig erhaltenen Szenen an die Holz-
schnitte eines ganz bestimmten Traktates –
in einem Maße, das dessen Identifikation
mit der wichtigsten Quelle für Simons Ge-
staltung mehr als wahrscheinlich macht.
Am 18. November 1480 erschien bei Anton
Sorg in Augsburg „Ein loblicher Passion
nach dem text der vier ewangelisten“, eine
der ersten gedruckten Ausgaben eines Tex-
tes, der in unzähligen, bis an den Beginn
des 15. Jahrhunderts zurückverfolgbaren
Handschriften im deutschen Sprachraum
verbreitet war. Als Verfasser gilt – trotz
ernst zu nehmender Zweifel – Heinrich von
St. Gallen, der im späten 14. Jahrhundert in
Prag Theologie lehrte.
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Ihm wiederum
diente vermutlich eine lateinische Evange-
lienharmonie als Grundlage, die er aber
unter Berufung auf die Kirchenväter neben
exegetischen und meditativen Passagen um
ausführlich geschilderte Grausamkeiten
ergänzt. Dies entspricht durchaus dem spät-
mittelalterlichen Bedürfnis nach Compas-
sio, dem subjektivierten Erleben des Lei-
dens, und verfehlt auch nicht seine Wir-
kung auf den rund hundert Jahre jüngeren
Simon von Taisten, wiewohl dieser zur
Hauptsache erzählerisch oder dramatisch
wirksame Informationen verwertet, die
weder aus den Evangelien noch aus den
Illustrationen zu beziehen sind.
Die Holzschnitte geben das Geschehen
in denkbar knapper Form wieder und sind
mehr als eine Art Lesezeichen zu verste-
hen, die das Auffinden der zugehörigen
Textstellen erleichtern. „Dann führten sie
Jesus hinaus, um ihn zu kreuzigen“, be-
richten Matthäus und Markus, und dass ein
Mann namens Simon von Cyrene gezwun-
gen wurde, das Kreuz zu tragen. Lukas er-
weitert die Szene um eine Menschen-
menge, darunter die weinenden Frauen
von Jerusalem, zu denen Jesus sich um-
wendet. Simon übernimmt das Vokabular
aus dem gleichnamigen Holzschnitt, die
Abweichungen aber erklären sich daraus,
dass er nicht nur die Bildvorlage und das
Evangelium, sondern auch die Ausführun-
gen des Traktates wörtlich zitiert
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:
„Und
do sy jhesum mit den zwey schachern
brachten under das stat tor da engieng
jhesu sein kraft unnd sanck vor kranckheyt
under den kreücz auff die erde.“
Da
„die
ritter und diener“
befürchten, er könnte
aus lauter Schwäche seine Kreuzigung
nicht mehr erleben, gestatten sie ihm vor
dem Tor eine Rast, während welcher er zu
den Frauen spricht, unter denen sich auch
seine Mutter befindet. Jetzt wiederum
fürchten die Ritter, er würde durch seine
Rede das Volk
„darzu reyczen das sy in
mitt gewallt nehmen wurden“
und drängen
zum Aufbruch, nicht ohne den Mann aus
Cyrene zur Mithilfe verpflichtet zu haben.
Die Kreuzarme binden die zeitlich ver-
streuten Momente der Handlung zusam-
men und dynamisieren das Bildfeld. So
steigt der Längsbalken nach rechts an und
vereinigt sich, gedanklich verlängert, mit
der Projektion der in die Tiefe fluchtenden
Stadtmauer zu einem über den Bildrand
hinaus drängenden Pfeil, durchkreuzt von
der Falllinie des Querbalkens. Im Schnitt-
punkt dieser explizit ausgezeichneten
Kraftlinien erscheint das Haupt Jesu, des-
sen rückwärts gewandter Blick eine nicht
minder wirksame Energie darstellt. Folge-
OSTTIROLER
NUMMER 3/2005
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HEIMATBLÄTTER
Gegenüberstellung einzelner Holzschnitte im Werk „Ein loblicher Passion ...“, erschienen in Augsburg 1480 mit den Fresken des Simon
von Taisten in Obermauern: Jesus vor Pilatus – Geißelung – Dornenkrönung.