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lich durchaus konform, in drei aneinander
grenzenden Räumen stattfinden. Nachdem
die Ankläger Jesu ihre Beschuldigungen, da
ihnen die Reinheitsvorschrift den Zutritt
verwehrte, außerhalb des Prätoriums vorge-
bracht hatten, ließ Pilatus
„jhesum auffpin-
den und füret in mit in sein hauß und saczt
sich nyder und ließ den herren vor im ste-
hen und sprach zu im ...“.
Schauplatzwech-
sel und Handlungssequenz vollziehen sich
als Durchschreitung eines Torbogens in der
zur Bildebene senkrecht gelegenen Front
des Gebäudes. Es ist evident, dass der Ge-
fangene durch jenen Wächter, der, den Fuß
auf die Schwelle gesetzt, die Fesseln fest-
hält, seinem Richter, durch den Geharnisch-
ten aber, der ihn am linken Ärmel ergrei-
fend aus dem Bild heraus blickt, dem Be-
trachter vorgeführt wird. Der Bogen, durch
den wir das Geschehen verfolgen, ist als
reine Schauöffnung für die Akteure nur in
passiver Form praktikabel.
Das Schnittmuster dessen, was hier, um
noch einmal Otto Pächt zu zitieren „auf
den engeren Radius individueller Anschau-
ungserfahrung“ begrenzt wird, folgt dem
Kontur eines Kielbogens, jenes der unmit-
telbar anschließenden Episoden dem eines
Rund- bzw. Kleeblattbogens. Wir werden
gleich sehen, warum. Das unbefriedigende
Verhör bewog bekanntlich Pilatus, Jesus
geißeln zu lassen – mit der Aussicht auf
Kreuzigung bei Matthäus und Markus, auf
Freilassung hingegen bei Lukas. Johannes
hält die Entscheidung noch offen. Keiner
der Evangelisten hält sich jedoch länger
mit der Geißelung auf. Was heute über
diese Folter zu wissen geglaubt wird oder
umgekehrt die fantasievolle Vorstellung
davon beeinflusst, verdankt sich zum Teil
der Spurensicherung am Turiner Grabtuch
und neuerdings gar einem Film von Mel
Gibson. Heinrich von St. Gallen wähnt
seine Kenntnis nicht minder authentisch
und listet neben dreierlei Instrumenten, mit
denen das Opfer traktiert wird, auch die an-
gerichteten Schäden auf: Die Gerten zerris-
sen dem Herrn die Haut, die mit Eisenku-
geln verstärkten Geißeln das Fleisch und
die Ketten
„machten in so durre, das man
im an mancher stat sin blos gebeine sach.“
Die Dreizahl der Folterknechte – der
entsprechende Holzschnitt zeigt lediglich
zwei – macht also ebenso Sinn wie die
Posen, in denen diese erfasst sind. Es sind
einzelne Phasen ihrer Bewegung um den
Gegeißelten herum,
„hinden und vornen
das kein gancze stat an seinem heyligen
leichnam“,
wobei die Säule als Rotations-
achse dient und durch die strahlenförmig
in den Rundbogen verlaufende Wölbung
verstärkt wird. Die durch Balkendecke und
Fliesenboden verlängerte Raumflucht
biegt an der Schwelle zum hinteren Aus-
OSTTIROLER
NUMMER 3/2005
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HEIMATBLÄTTER
Plan der Fresken des Simon von Taisten im Langhaus der Wallfahrtskirche von Obermau-
ern: 1. Auferweckung des Lazarus, 2. Einzug Christi in Jerusalem, 3. Letztes Abendmahl,
4. Ölbergszene mit schlafenden Jüngern, 5. Die Schergen fallen vor Jesus nieder, 6. Pe-
trus schlägt Malchus ein Ohr ab; Judaskuss, 7. Verleugnung des Petrus, 8. Jesus vor Kai-
phas, 9. Jesus vor Herodes,
10. Jesus vor Pilatus, 11. Geißelung, 12. Dornenkrönung,
13. Ecce homo, 14. Verurteilung Christi,
15. Kreuztragung, 16. Entkleidung, 17. Kreuz-
nagelung,
18. Kreuzigung, 19. Kreuzabnahme, 20. Grablegung, 21. Christus in der Vor-
hölle, 22. Auferstehung, 23. Die drei Frauen am Grab, 24. Christus erscheint Maria
Magdalena („Noli me tangere“), 25. Christus erscheint seiner Mutter (zerstört), 26.
Szene in Emmaus (zerstört), 27. Christi Himmelfahrt (zerstört), 28. Pfingsten (zerstört),
29. Weltgericht. – Freskenplan entnommen Meinrad Pizzinini, Osttirol. Der Bezirk Lienz
(= Österreichische Kunstmonographie VII), Salzburg 1974; Zeichnung Peter Sölder.
gang noch einmal ab. So wird der Betrach-
ter, dessen Standort zwar am rechten Rand
angenommen aber nicht festgehalten ist,
von der Kreisbewegung erfasst, deren An-
gelpunkt die Mitte des Bildes und die
Mitte des unter den Schlägen zusammen-
sackenden Körpers markiert. Von hier
aus wird auch der Bogen geschlagen, der
„engere Radius individueller Anschau-
ungserfahrung“ gemessen.
In der Dornenkrönung, wo Simon sogar
die auf den ersten Blick ungünstig erschei-
nenden Verhältnisse der realen Architektur
in die Bildfassung überführt, ist die Ent-
sprechung von Bogenform und Figurenbe-
wegung ebenso präzis.
„... und flachten ein
kron von dorn und seczten im die auff und
namen ror und druckten im die in sein hei-
liges haupt auf die hirnschal.“
Der Kraft-
akt bildet sich zusätzlich ab im Netzrippen-
gewölbe, das parallel zum Nachgeben des
Opfers perspektivisch mitverformt wird:
Nachdruck im doppelten Sinne des Wortes!
Um die Schmach zu vollenden legten sie
Jesus
„... ein purpur klaid an unnd was eyn
seydin mantel den sy umb in täten, darum
man ettwen der juden künig gekrönt hett.“
Überhaupt wird den gesamten Bericht hin-
durch auffallend oft die Kleidung gewech-
selt. Im Verein mit dem bei diesen Gelegen-
heiten reichlich fließenden Blut breitet der
Traktat sein Lokalkolorit aus – eine der we-
sentlichen Herausforderungen an die noch
heute gerühmte Farbgestaltung der Fresken.
Das „Hölzerne“ aber der Zeichnung
braucht lediglich durch ein „Holzschnittar-
tiges“ substituiert werden, um den Einfluss
der Illustrationen augenfällig zu machen.
Die Frage, ob Simon darüber hinaus auch
Anregungen aus geistlichen Spielen ver-
wertete, ist nach allem, was wir erkannt zu
haben glauben, mit Josef Franckenstein zu
verneinen.
10
Allerdings blieb der Text des
Heinrich von St. Gallen seinerseits nicht
ohne Wirkung auf die eine oder andere
theatralische Fassung der Leidensge-
schichte.
11
Warum nicht auch jener, die viel-
leicht einmal in Virgen aufgeführt wurde?
Anmerkungen:
1 Josef Weingartner, Das Burgfräulein von Rabenstein.
3. Aufl., Innsbruck-Wien-München 1961, S. 132f.
2 Ernst H. Gombrich, Visuelle Entdeckungen durch die
Kunst, in: Bild und Auge, Stuttgart, 1984, S. 21f.
3 Otto Pächt, Die historische Aufgabe Michael Pachers,
in: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, S. 66.
4 Vgl. dazu: Josef Franckenstein, Simon von Taisten. Ein
Beitrag zur Kunstgeschichte der Spätgotik im Pustertal.
Phil.-Diss., MS, Innsbruck 1976, S. 31, 34f.
5 Hans Jantzen, Kunst der Gotik, Hamburg 1957, S. 69-77.
6 Zum gotischen Licht vgl. ebd., S. 67f.
7 Kurt Ruh, Studien über Heinrich von Sankt Gallen und
den „Extendit manum“ - Passionstraktat, in: Zeitschrift
für schweizerische Kirchengeschichte, XLVII. Jahr-
gang, Heft 1 (1953), S. 210f.
8 Und wir zitieren im Folgenden nach dem Exemplar der
Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. Für die Recherche
danke ich Michael Ingruber.
9 Willibald Hopfgartner, Sehen um zu glauben, in: Louis
Oberwalder – Peter Th. Ruggenthaler, Die Kirche zu
Unserer Lieben Frau Maria Schnee, Virgen 2003, S. 183
10 Franckenstein, wie Anm. 4, S. 49f.
11 Vgl. Ruh, wie Anm. 7, S. 257ff.
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren
verantwortlich.
Anschrift des Autors dieser Nummer: Mag.
Rudolf Ingruber, A-9900 Lienz, Ruefenfeld-
weg 2 b.
Manuskripte für die „Osttiroler Heimat-
blätter“ sind einzusenden an die Redaktion
des „Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad
Pizzinini, A-6176 Völs, Albertistraße 2 a.