Seite 30 - Gemeindezeitungen

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• Juli 2013
Chronik
rollten auf dem Rückzug mit Panzern und Autos durch die
enge Dorfstraße (und hätten beinahe meine kleine Schwester
überfahren). An der Grenze bei Winnebach/Innichen wurde ein
Versorgungslager der Wehrmacht für die Bevölkerung freige-
geben. Meine Muttter brachte nach einem langen Fußmarsch
Reis, Fleischkonserven, Wollsocken (aus denen wir Pullover
strickten) in einem Rucksack mit, die Bauern fuhren mit Pfer-
dewagen vor.
Eine Einheit der SS erschien zur Verteidigung der Grenze
und die Wlassow-Armee der Kosaken (benannt nach ihrem
General Wlassow). Sie waren Russen bzw. Ukrainer, die auf
deutscher Seite kämpften, Sie lagerten mit ihren Familien und
ihrer Habe auf den Wiesen, schliefen und kochten im Freien;
ihre Pferde weideten jenseits der Drau in „Gries“ und „Klein-
Eggele“.
Erst im April 1945 besetzten die Engländer das Pustertal.
Mein Vater, der als Lehrer Englisch sprechen konnte, wur-
de abgeholt und musste als Dolmetscher tätig sein für einen
Gouverneur namens Mr. Green, der den Sperrbezirk Sillian
kommandierte. Er behandelte die Bevölkerung und die vielen
Flüchtlinge sog. (Displaced Persons) sehr unfair. Mein Vater
wurde als „Reichsdeutscher“ ohne Bezahlung entlassen.
Im Juni 1945 waren die Kosaken verschwunden. Die herrenlo-
sen Pferde wurden vom Dorfschlächter geschlachtet und dien-
ten uns als Nahrung.
Da wir von Berlin aus keine finanzielle Versorgung mehr hat-
ten, ging ich zum Bauern arbeiten; für das Essen und einen
Liter Milch. Wir mussten das Hotel Post verlassen, weil es
britische Offiziersmesse wurde. Dekan Hanser, der uns vom
Kirchgang kannte, besorgte unserer vierköpfigen Familie ein
Zimmer in den Zollhäusern von Sillian, später Arnbach. Ich
erinnere mich, dass am 8. Mai 1945 die Bevölkerung auf dem
Marktplatz stand und über Drahtfunk von der Befreiung der
Konzentrationslager durch die Engländer berichtet wurde. Die
ehemaligen Parteigenossen des Ortes wurden verpflichtet, sich
im Kino den Film „Bei Nacht und Nebel“ anzusehen.
Erst im Juli 1946 wurden die Berliner Schüler und Lehrer aus
Kärnten und Osttirol in Spittal/Drau gesammelt und gelangten
mit einem Lazarettzug nach dreitätiger Fahrt durch Deutsch-
land zurück in das zerstörte Berlin.
Ich kam an die Stätten meiner Kindheit häufiger zurück. 1961
erfuhren wir ausgerechnet in Sillian in unserem Sommerurlaub
vom Mauerbau in Berlin.
1972 wanderten wir mit meiner jungen Familie in den Lienzer
Dolomiten und sahen in der Stadt Lienz die Gedenkstätte, in
der das Schicksal der Kosaken auf Gemälden dargestellt war.
Am 12.03.2006 sendete das ZDF eine Dokumentation über die
Kosaken in Osttirol „Das Drama der Drau“.
Mit meiner österreichischen Schulfreundin habe ich jahrzehn-
telang Kontakt gehalten. Sie besuchte mich in Berlin und ich
sie in Graz. Wir haben immer viel zu erzählen!
Text: Dr. Renate Kathke-Fiebach