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O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
66. Jahrgang –– Nummer 2
wird ausgehoben (Szene 8); der wohlbe-
stallte Abdecker karrt schwere, traur’ge
Last zur Stadt hinaus (Szene 9).
Es ist nicht überliefert, ob die öffentliche
Zurschaustellung der besagten Bildtafel
von verbaler Geiselung welcher Art und
welchem Ausmaß immer begleitet war.
Eine solche kann jedoch nicht gänzlich
ausgeschlossen werden, angesichts der
Tatsache, daß es auch manchen Alt-
Lienzern weder an possenreißerischer
Lust, noch an reimerischer und sängeri-
scher Begabung gebrach. Ersteres besorg-
te zumindest die Lienzer Zeitung mit ei-
nem posthum veröffentlichten Gedicht:
Das Hundegericht im Jahre 1886
7
Ein Bauersmann in Osttirol
Der hatte einen Hund,
Der Hund war wüthend, er war toll,
Im Städtlein ward es kund.
Am Dienstag nun in aller Fruh
Da rannte er hinein;
Zuerst biß er dort eine Kuh,
Dann Hunde groß und klein.
Die Polizei ward avisirt
Und Jäger rückten aus;
Der tolle Hund ward massakrirt,
Den Magen hob man aus.
Den Delinquenten gräbt man ein,
Ein Karner find ihn bald;
Den Spall und Schlägel speist er fein,
Die Haut wird ihm bezahlt.
Die Tollwuth wurde konstatirt,
Dann folgte der Erlaß:
Ein jeder Hund, den er berührt,
Muß beißen in das Gras.
Hier sieht man nun das Hochgericht,
Der Knabe dort ist Henker, –
Doch jeder Hund ergibt sich nicht
Es gibt schon solche Stänker.
Den einen schießt man todt mit Schrott,
Der Zweite wird erschlagen,
Der Dritte läuft entrüstet fort,
Ist nimmer zu erfragen.
In einem tiefen Schacht sodann,
legt man sie all’ hinein,
Dort wo so vieles Blut einst rann,
Setzt man den Leichenstein:
„Hier liegt Cäsar, Tiger, Mylord,
Sultan, Rhodus, Bratzl und Fuchs;
Emir, Lion, Turko, Juno,
Rollo, Friko, Morl und Luchs.
So lebt den[n] wohl ihre Hunde all’,
Wir steh’n betrübt an diesem Ort;
Ihr habt geendet voller Qual
In unserm Herzen lebt ihr fort.“
Die Hunde die man leben ließ
Leget an die Leine man,
Den Maulkorb zwängt man vor’s Gebiß,
So kein Hund mehr beißen kann.
Die Leute aber sagen schier:
Das war schon ziemlich gräulich,
Und mancher Vorgang, glaubet mir,
Bleibt schon fast unverzeihlich.
Zwar sind die Methoden, mit denen sich
die Vorderen der grassierenden Seuche
entledigten nicht nur nach heutigem
Empfinden verwerflich, doch erscheinen
sie im Hinblick auf die beschränkten
organisatorischen, medizinischen und
hygienischen Mittel und Möglichkeiten in
einem etwas anderen Licht.
Anmerkungen:
1 Pizzinini, Meinrad: Osttirol in alten Fotos und Zei-
tungsberichten (16), in: Osttiroler Bote 1975/17, S. 32.
2 Besagtes Stück befindet sich in Museumsbesitz von
Schloß Bruck, Lienz.
3 Nach Maßgabe diverser Presseberichte in der Lienzer
Zeitung, Feber/März 1886, sowie der Lienzer GR-Pro-
tokolle, Jahrgang 1886.
4 Lienzer Zeitung 1886/9 (14. März), S. 71.
5 Lienzer GR-Protokoll 1886, Eintragung v. 12. März.
6 Vgl. hiezu Begriffserklärungen, in: Brockhaus Enzy-
klopädie, 19. Auflage.
7 Lienzer Zeitung 1886/9 (14. März), S.77.
Morita-
tentafel
eines
unbe-
kannten
Malers
mit der
Darstel-
lung des
Lienzer
„Hunde-
gerich-
tes“ von
1886.
Foto:
Baptist,
Lienz