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Über diese, nicht bloß als skurril zu be-
zeichnende Affäre wurde die Leserschaft
des „Osttiroler Bote“ bereits in den sieb-
ziger Jahren durch M. Pizzinini unterrich-
tet
1
. Mittlerweile konnte das aus gegebe-
nem Anlaß angefertigte, später in Verstoß
geratene Bild – eine szenische Darstellung
der historisch verbürgten Begebenheit –
wiederentdeckt und zugeordnet werden
2
,
wodurch sich die prekäre Angelegenheit
noch deutlicher darstellt. Das Vorgefalle-
ne löst selbst heute noch Verwunderung,
wenn nicht gar Betroffenheit aus, von
solch unsensiblem Umgang der Altvorde-
ren ist die Rede
3
:
Ein, dem Behaim-Bauern in Gaimberg
entlaufener und, wie sich bestätigen sollte,
tollwütiger Hund versetzte im Feber
1886 die Lienzer Bevölkerung in helle
Aufregung. Die Empörung war eine umso
größere als nicht nur bekannt wurde, daß
die zuständigen Exekutivorgane säumig
waren, das tolle Tier unverzüglich aus dem
Verkehr zu ziehen und damit die Ausbrei-
tung der gefährlichen Seuche ehestens zu
unterbinden, sondern auch wie man mit
dem vierbeinigen Delinquenten und seinen
mit ihn in Berührung geratenen Artgenos-
sen umging.
Die Kunde um den durch die Stadt streu-
nenden, unheilstiftenden Hund verbreitete
sich wie ein Lauffeuer, das stündlich neue
Nahrung erhielt. Die Lienzer Zeitung, ein
im Berichtsjahr neu erscheinendes Blatt,
nahm sich des Falles in umsichtiger
Weise an, freilich nicht ohne die diver-
sen Unzulänglichkeiten behördlicherseits
entsprechend anzuprangern und für die
breite Öffentlichkeit Aufklärung einzufor-
dern. Ihr ist auch der einzige Hinweis zu
entnehmen, daß „die Vorgänge in einem
Tableau mit 9 Bildern verewigt“ wurden
„und dieses am Faschingsdienstag als
Morithaterei in den Straßen und Gast-
häusern gezeigt“ wurde
4
.
Zu den Fakten:
Das am 22. Feber 1886 im Stadtgebiet
aufgetauchte, wutverdächtige Tier konnte
am Folgetag am „obern Stadtplatz“
(= Johannesplatz) durch einen gezielten
Schuß niedergestreckt und durch einen
weiteren vom Leben zum Tod befördert
werden. Die umgehend durchgeführte
veterinärmedizinische
Untersuchung
brachte die Gewißheit über seinen Toll-
wut-Befall. Daraufhin wurden von Seite
der Behörde (k.k. Bezirkshauptmann-
schaft über Bezirkstierarzt und Sanitäts-
assistenz) die allerstrengsten Maßregeln
ergriffen und eine mehrwöchige „Hunde-
kontumaz“ mit folgenden Auflagen ver-
hängt: strikte Einschließung aller Hunde
und Beißkorbpflicht; sofortige Vertil-
gung der vom Tollwütigen berührten und
gebissenen Hunde; sichere Vergrabung
derselben auf offenem Feld außerhalb des
dichtverbauten Stadtgebietes.
Man kann sich vorstellen, welch Auf-
schrei der Entrüstung durch die Reihe der
Hundebesitzer und -liebhaber ging, als das
große Gemetzel begann, das ihre lieben
Vierbeiner das Leben kostete: Ein Schul-
junge wurde gedungen, die einzeln oder in
einer Umzäunung verwahrten „Todeskan-
didaten“ zu erschießen. Den Schlechtge-
troffenen erging es dabei noch schlimmer,
denn beigesprungene Helfer vollendeten
mit Hämmern, Hacken und Schlägeln das
traurige Werk.
Der von der Stadt für die Dauer der
„Hundekontumaz“ bestellte Abdecker
Rupert Wohlmuth
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hatte schließlich an die
zwei Dutzend getötete Hunde aus der Stadt
zu karren und in einem tiefen Schacht zu
vergraben.
Indes waren neue Gerüchte aufgetaucht,
die die Mißstimmung in der Bevölkerung
zur Spitze trieben: Den Urheber der
ganzen Misere und Erstverscharrten habe
ein wenig ehrenhafter Zeitgenosse nächt-
licherweile ausgegraben und ihm das Fell
abgezogen, wohl um es für ein paar lum-
pige Kreuzer zu verschachern. Auch habe
der tollwütige, fremde Hund in der Stadt
eine Kuh angefallen und gebissen; man
könne nicht wissen, was daraus werde.
Solche und ähnliche, hier nicht nachvoll-
ziehbare Reden und Vorkommnisse bil-
deten mit den obgeschilderten, wahrlich be-
dauernswerten Geschehnissen für Wochen
das Tagesgespräch. Kein Wunder, daß die
Entrüstung groß war und die Kritik
unüberhörbar wurde. Sie drückte sich nicht
nur in geharnischten Protesten der Bevöl-
kerung und scharfen Presseartikeln, son-
dern auch in dem erwährten „Moritheater“,
worunter Moritat zu verstehen ist, aus.
Unter Moritat, einer insbesondere im 19.
Jahrhundert gepflegten Sonderform des
Bänkelsanges
6
, ist das öffentliche Ab-
singen eines mehrstrophigen Liedes vor ei-
ner mehrszenigen Bildtafel zu verstehen,
dessen Hauptinhalte sensationelle Tages-
ereignisse sowie Vergehen und deren Be-
strafung sind.
Hauptgegenstand der „Lienzer Moritat“
– mit einer solchen haben wir es hier zwei-
felsfrei zu tun – ist das aufsehenerregende
Geschehen um die tollwütigen und in-
fizierten Hunde, das der Nachwelt in Form
einer szenischen Darstellung mit dem
Titel „Das Hund’s Gericht in Lienz im
Jahre 1886“ sowie in einem literarischen
Nachklang der heimischen Presse erhalten
geblieben ist.
Besagte Bildtafel (s. Abb.) – neun Ein-
zelszenen zum „Hund’s Gericht“, in
Dreierreihen angeordnet, in durchschnitt-
licher Größe von je 45,5-47,0 cm x 50,0-
51,0 cm; Ölfarbe auf grundiertem Papier,
Gesamtgröße: 153 x 153 cm; Erhaltungs-
zustand: schlecht – zeigt nun in zwar ein-
facher, doch einprägsamer Art die einzel-
nen bzw. wichtigsten Stationen des die Öf-
fentlichkeit über die Maßen bewegenden,
aktuellen Geschehens: Fast scheint es, als
setze der unbekannte (Moritaten-)Maler
den entlaufenen Hund zunächst an einen
Scheideweg (Szene 1), dann wieder zeigt
er ihn unvermittelt vor städtischen Häu-
sern, wie er eine am Brunnen stehende
Kuh anfällt (Szene 2), und weiter auf dem
Johannesplatz, wo sich sein Schicksal er-
füllt (Szene 3). Szene 4 und 5 veranschau-
lichen die allgemeine Hundehatz und die
Ausführung der angeordneten „Vertil-
gung“, während sich in Szene 6 hündische
Hoffnung auf ein glückliches Entkommen
und idyllisches Fortleben andeutet. Der
Schlächterei letzter Akt vollzieht sich vor
dem Siechenhaus (Szene 7): Den letzten
trifft der hochgeschwung’ne Schlägel. Ein
tiefer Schacht für eine letzte Ruhestatt
Nummer 2 –– 66. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r
Ein tollwütiger Hund fällt in der Stadt Li-
enz eine Kuh an; Ausschnitt aus der
Moritatentafel.
Foto: Lois Ebner
Der tollwütige Hund am Johannesplatz.
Foto: Lois Ebner
Szene beim Lienzer Siechenhaus.
Foto: Lois Ebner
Lois Ebner
Zum „Hund’s Gericht“ in Lienz im Jahre 1886