Seite 1 - H_1998_03

Basic HTML-Version

Nummer 3/1998
66. Jahrgang
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Anton Draxl
Ein „Venezianer“ im Villgraten – die Wegelate-Säge
Die allgemeine Bezeichnung für eine
automatische, mechanische und mit Was-
serkraft betriebene Anlage zum Zersägen
von Baumstämmen lautet „Sägemühle“.
Im Volksmund hierzulande wurde eine
wasserbetriebene, bäuerliche Haussäge als
„Venezianer“ oder „Venezianersag“ be-
zeichnet. Dieser Begriff war in Gebieten
üblich, die im Einflußbereich der ehe-
maligen Weltmacht Venedig lagen. – Die
Säge gehört zumWegelate-Hof, einem der
Urhöfe im Villgratental. Besonders inte-
ressant ist die Bezeichnung von Höfen mit
der Nachsilbe -ate (auch -ete), z. B. Berg-
late, Tolate, Pochlate, Milete, Wegelate.
Nicht alle diese Hofnamen sind ur-
sprünglich mit jenem Anhängsel gebildet
worden. Wegelate hieß z. B. um 1300 an
dem Wege, im Jahr 1433 Weghoff; Milate
entsprach damals Mulhoff (= Hof mit
Mühle); Berglate hieß Perghoff; Pochlate
war der Pachhoff (= Hof am Bach). Diese
Nachsilben benennen eigentlich die Ge-
samtheit eines Hofes, also mit all seinem
Inventar und Grundbesitz.
I. Zur Geschichte der
„Venezianer-Säge“
Venedig, die Lagunenstadt, war im Lauf
der Zeit auf Millionen von Holzpfählen er-
richtet worden, die „unwahrscheinlichste
Stadt der Welt“ (laut Thomas Mann). Die
Venezianer waren geniale Erfinder, für
ihre Stadt gab es ja kein Vorbild. Der
Holzbedarf war riesig. Er wurde anfangs
in Istrien und Dalmatien gedeckt, dort be-
standen vor der Völkerwanderung noch
dichte Wälder. Nahezu 120 Inseln wurden
mit Holzstämmen befestigt und mit über
400 Brücken verbunden. Allein 12.000
Pfähle geben der Rialtobrücke Halt, erbaut
von 1588 bis 1591. Und auf der anderen
Seite der Adria verkarstete das Land, ohne
den schützenden Wald der erosiven Kraft
des Wassers rettungslos ausgesetzt.
Anno 1423 lebten in Venedig 190.000
Menschen – der Doge Tomaso Mocenigo
ließ zählen –; 16.000 Schiffsbauer arbeiteten
im Arsenal (gegründet 1104; verballhornt
vom arabischen darsina’a = Werkstätte,
Werft; bedeutet heute „Zeughaus“). Von
ca. 36.000 Seeleuten wurden 45 Galeeren,
300 große und 3.000 kleinere Schiffe be-
trieben. Dann im 16. Jahrhundert befuhren
die Kanäle und Lagunen insgesamt 10.000
Gondeln. Das kunstvoll gebaute Ruderboot
besteht aus acht verschiedenen Hölzern:
Eiche. Fichte, Lärche, Linde, Kirsche, Nuß,
Tanne und Ulme. – Das ideale Produkt für
Balance und Mobilität auf dem Wasser!
Ein Symbol zeitloser Eleganz!
Bereits um 1420 eroberte der Stadtstaat
an der Adria Territorien auf dem Festland,
der „terra ferma“. Ein wichtiger Beweg-
grund mag der gewaltige „Holzhunger“
Venedigs gewesen sein. Der Rohstoff die-
ses waldreichen „Hinterlandes“ wurde
über Etsch, Brenta, Piave und Tagliamen-
to als „Schnittware“ ans Meer geflößt. Das
Schneiden der Baumstämme besorgte in
den „venezianischen“ Alpen ein eigens
entwickeltes Sägewerk, die „Venezianer-
säge“. Dieser Typ erfaßte dann weite
Teile der österreichischen Alpen, aber
auch Gebiete der Schweiz und Slowe-
niens, dort „venecijanka“ genannt – abge-
leitet vom Namen „Venezia“. Vor allem
italienische Holzhändler und Gewerken (=
Bergwerksunternehmer) trugen zur Ver-
breitung dieser „ausgefeilten“ Sägetechnik
im 16. und 17. Jahrhundert bei.
Der Begriff „Venezianer“-Säge oder –
Gatter taucht aber erst um die Mitte des 19.
Jahrhunderts in der Literatur auf. Der erste
schriftliche Beleg findet sich 1859 in einem
Bericht über „Die venezianischen Brett-
mühlen der Piavethäler“. Sägemühlen
wurden aber bereits im frühen 14. Jahr-
hundert. urkundlich erwähnt: 1307 in Hall
in Tirol, 1333 in Obervellach (Mölltal,
Kärnten); aus der Steiermark stammt ein
Beleg von 1335. (Diese ersten Hinweise
beziehen sich auf Bergbauzentren mit
großem Holzbedarf!) Im Jahr 1614 bot
Francisco Fertalia aus Venedig der Regie-
rung in Innsbruck an, Versuche mit einer
Säge zu machen an Stelle des bisher ge-
übten Ausschrotens von Stämmen (schroten
= grob zerkleinern, behauen). Das händische
„Schroten“ mit der Axt brachte viel Abfall
Die Wegelate-Säge, vom Villgrater Heimatpflegeverein 1992/93 für den Betrieb wieder
hergerichtet.
Alle Fotos: A. Draxl