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gemacht, den vierzehnjährigen Flora in die
entsprechende Schublade seiner Fachdia-
gnostik zu verbannen. Die
„Bettennummer
elf“
aber entwickelt eine spezielle Strate-
gie, das System zu konterkarieren. Dazu,
so erkennt sie, bedarf es zunächst der mög-
lichst kaltschnäuzigen Systemanalyse. Zu
diesem Zweck wird ihr Ich quasi
„amö-
boid“.
Es versetzt sich zeitweise direkt
hinein in das Innere der systemtragenden
Figuren. Aus der Innenperspektive seiner
Todfeinde gewinnt Flora die nötige Sy-
stemkenntnis und entwickelt daraus nun
eine Art Gegenstrategie.
„Man muß her-
ausfinden, was die unter normal verstehen.
Dann ist man draußen“,
erkennt er.
„Will
man hinauskommen, muß man die Sprache
des Irrenhauses sprechen. Keineswegs
darf man die Ausdrücke der Realität ver-
wenden.“
Die
„Wahrheit“,
so seine Ein-
sicht,
„ist drinnen dasselbe, als würde
man freiwillig Arsen schlucken, um eine
Malaria zu kurieren.“
Diese system-
erzwungene Verstellung geschieht aber
zum Preis einer radikalen inneren Verän-
derung. Flora freut sich nun etwa, wenn
Leidensgenossen aneinandergeraten und
ihre Hölle dadurch noch verschlimmern.
„Die Tortur brennt einem für immer das
Gespür für die Grenzen ein, wie weit
sich Menschen untereinander grausam
quälen können, und dadurch ändert
sich entscheidend der Charakter. Später
begreifen die anderen nicht, was sie einem
getan haben sollen, wenn man oftmals
grausam ist. Das Gefühl für Erbarmen und
Mitleid verloren hat. Gleichzeitig sich
selbst aber nicht minder quälend. Es geht
ureigen in die Persönlichkeit über. Aus der
Grausamkeit heraus begreift man nämlich
am ehesten und zuallererst, daß sie geeig-
net ist, die klinkenlosen Türen des Irren-
hauses zu öffnen. Was hier getan wird, ist
Zwang. Vergewaltigung. Umpolung. Zer-
setzung. Zerstörung. Ohne Renovie-
rungsmöglichkeit.“
(G. Foidl,
Der Richt-
saal,
S. 130 f)
Und in der Tat, was nun noch in der
Brust Floras liegt, nennt dieser
„schwer,
dreckig, hartgebrannt, bis zum jederzeit
möglichen Zersplittern“.
Wenn er in Zu-
kunft an das Erlebte denkt,
„riecht er das
abscheuliche Stinken des Gefühlsflei-
sches in seinem Innern. In seiner Seele
steckt nun ein morscher, fauliger Baum-
strunk anstatt des früheren Gewissens.“
Er
heißt zwar noch genauso
„Gid Flora“,
ist
es aber nicht mehr. (Jetzt – angesichts die-
ser nun verstehbar gewordenen
„Ver-
wandlung“
– hat der Leser auch die Er-
klärung für die unglaubliche Härte, mit der
Flora die verbale Auseinandersetzung mit
einzelnen Mitgliedern seiner Familie im
ersten Teil des Romans führt. Er begreift
auch, daß ohne diesen letzten Teil dem
Gesamtwerk etwas Konstituives fehlt.)
Seine Strategie, mehr aber noch viel
Glück (ein sehr seltener Moment) haben
schließlich doch zur Entlassung des Gid
Flora aus der Psychiatrie vor zehn Jahren
geführt. Einmal mit der Strategie vertraut
geworden, wird er auch jetzt – zehn Jahre
später – nach nur viertägigem Aufenthalt
in der Psychiatrie als von seiner Suizidge-
fährdung
„geheilt“
entlassen und geht
„zögernd durch die Tür der Psychiatrie
nach draußen, wozu man Freiheit sagt“.
Der Roman
„Der Richtsaal“
hinterläßt
einen zutiefst betroffenen, in hohem
Maße verunsicherten, ja verstörten Leser.
„Der Richtsaal“
thematisiert die Erosion
des Humanen auch in unserer provinziel-
len, scheinbar so heilen Kleinbürgerwelt.
Die behandelten Ereignisse liegen zwar
schon geraume Zeit hinter uns, über vieles
ist das Gras der Zeit gewachsen. Aber wie
heißt es so treffend:
„Es wird schon ein
Kamel kommen, das es wieder wegfrißt.“
Dieses Kamel, vielleicht aber auch man-
cher reife Leser, verspürt in sich den Sta-
chel einer bangen Frage: Welche Anteile
meines eigenen Selbst entstammen einer
ähnlichen oder vielleicht sogar derselben
Konkursmasse? Inwieweit ist mein (eige-
nes) Da-Sein als Spät-/Nachgeborener see-
lisch, moralisch, wesensmäßig hineinge-
zopft in das nissenverseuchte Haarband
dessen, was man so landläufig
„Vergan-
genheit“
nennt?
Fortsetzung folgt
heißt. Wenn ich mir vergegenwärtige, daß
ich vor wenigen Wochen den Versuch ge-
macht haben soll, mich zu erschießen,
kann ich nur ungläubig den Kopf schüt-
teln. Mein ganzes Denken schließt nun den
Tod aus, meine Gedanken kreisen nur
noch um das Leben“.
(G. Foidl,
Der Richt-
saal,
S. 104)
Einen weiteren Monat verbringt der Ge-
nesende auf der HNO-Station. Und da rollt
vor seinem inneren Auge der erste Auf-
enthalt mit all der seinerzeit erlittenen
Demütigung, Verlassenheit und Hoff-
nungslosigkeit nochmals – für uns Leser
aber erstmals – in seiner ganzen Entsetz-
lichkeit ab. Wir begegnen nun – durch das
Brennglas
„Psychiatrie“
gesehen – dem
Großkollektiv, der
„Gesellschaft“
und
deren Domestikationsapparat.
Dieser dritte Teil des Manuskripts, die
Publizierung der Psychiatrie-Anklage, er-
schien seinerzeit (im Jahre 1978) dem
Walter Verlag/Olten zu riskant. Die Her-
ausgeberin, Frau Dorothea Macheiner, hat
im Nachlaß des Autors diesen ungedruck-
ten Teil des Manuskripts entdeckt, mit
dem der Roman ursprünglich hätte
schließen sollen. Die Neuausgabe der Edi-
tion Löwenzahn vom Jahre 1998 beläßt
den Text, wie Frau Macheiner versichert,
in größtmöglicher Nähe zur Originalfas-
sung und riskiert erstmals die Veröffent-
lichung auch des dritten Teils.
Im Irrenhaus-Mistkübel
Noch in der HNO liegend, gewärtig,
bald in die Psychiatrie überstellt zu wer-
den, löst dies bei Flora eine nervenzer-
mürbende, auch des Lesers Mark zerfres-
sende Lawine von Erinnerungen an jenen
Aufenthalt vor zehn Jahren in ebendieser
Psychiatrie, dieser
„Verschrottungsanla-
ge“,
dieser
„Gehirnzerstörungsanstalt“
aus, in der man
„aus Überlebenszwang
unter Kotzen den Charakter denatu-
riert“.
Der Leser wird mithineingezwungen in
eine wahre Hölle unmenschlicher Leiden
und menschlicher Niedertracht, Das
System, so Flora, funktioniert in hohem
Maße autoreferentiell. Das heißt: Wen es
einmal in die Fänge bekommt, den läßt es
so leicht nicht mehr los. Die handelnden
Ärzte und das Pflegepersonal sind es
scheinbar ihrer Selbstachtung schuldig, in
den ihnen überantworteten Opfern jene
Symptome zu diagnostizieren, auf deren
oft vagen Verdacht hin diese eingeliefert
worden sind. Sie machen sich zu brutalen
Handlangern von Erbschleichern oder, wie
im Falle Gid Floras, einer simplen Ver-
wandtenracheaktion. Wer nicht, wie die
Einlieferungsdiagnose behauptet, para-
noid, schizophren, manisch-depressiv,
dement etc. ist, der wird es garantiert unter
der Einwirkung von Elektroschocks,
Wasserbädern, Lungenintubationen, Stö-
ßen in die Nierengegend, Fastenkuren oder
Schlägen in den Bereich des Solarplexus,
verabreicht etwa durch den
„Pfleger-
wächterschläger“
Franz. Einige Mitpa-
tienten verrecken elendiglich vor den
Augen Floras, des
„Elfers“,
wie er auf der
Station heißt, an den Folgen derartiger
„Maßnahmen“.
Besonders der ehrgeizige Stationsarzt
Dr. Julius Hetzer hat es sich zur Aufgabe
O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
67. Jahrgang –– Nummer 2
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren
verantwortlich.
Anschrift des Autors dieser Nummer:
Mag. Lois Außersteiner, A-9900 Lienz, Dolo-
mitenstraße 41.
Manuskripte für die „Osttiroler Heimat-
blätter“ sind einzusenden an die Redaktion
des „Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Pi-
zzinini, A-6176 Völs, Albertistraße 2a.
Grab-
stätte
von
Gerold
Foidl
und
seiner
Mutter
am
Fried-
hof
von
Köt-
schach.
Foto:
Prof.
Man-
fred
Wasser-
mann