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Nummer 2 –– 67. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r
risch und listig das Prinzip des
„Trotzdem-
ja-zum-Leben-Sagens“.
Sie ist im doppelten
Wortsinn
„beharrlich“.
Einmal ist damit
ihre unerhörte Zähigkeit gemeint, mit der sie
ihre Ziele verfolgt. Zum anderen ist sie be-
harrlich in dem Sinne, daß das Hauptziel,
welches sie im Auge hat, ein urarchaisches
ist, nämlich der Fortbestand und die Ver-
besserung der gesellschaftlichen und wirt-
schaftlichen Zukunftschancen des Clans.
Diesem Ziel ist sie alles zu opfern bereit: die
Leibesfrucht und das Lebensglück der eige-
nen Tochter, da das uneheliche Kind den
„guten Ruf“
der Familie schmälern und de-
ren inneres Gefüge beeinträchtigen könnte,
das Lebensglück des Enkels, da dessen
„Unberechenbarkeit“
zum beruflichen
Ruin des Arzt-Onkels Elmar hätte führen
können, womit die gesellschaftliche Ver-
ankerung riskiert gewesen wäre.
Einer Katharina von Medici nicht
unähnlich, verfolgt sie ihr Hauptziel ohne
jegliche moralische Skrupel. Individualität
einzelner Familienmitglieder wird nicht im
mindesten akzeptiert. Und die Familie fügt
sich der starken Frau vorbehaltlos – bis auf
Gid, mit Einschränkungen widersetzt sich
auch dessen unglückliche Mutter. Beide
haben folgerichtig mit den schlimmsten
Sanktionen zu rechnen. Der so konstitu-
ierte Nachkriegsprovinzabsolutismus kann
nicht einmal den Ausstoß aus seiner
Gesellschaft in Betracht ziehen. Er kennt
eigentlich nur das
„Verdauen“
des Unfüg-
samen mittels seiner aus sich selbst heraus
produzierten schärfsten, ätzendsten Ma-
gensekrete. In letzter Konsequenz liegt für
Foidl darin auch Großmutters verzweifeltes
Ringen begründet, den Selbstmord des Pro-
tagonisten doch noch zu verhindern.
Sie ist – alles in allem genommen –
jedenfalls eine
„große“
Frauenfigur, die
dem antiken Mythos entstiegen sein
könnte, eine Frauenfigur also, wie man sie
nicht so bald findet, in der Literatur nicht
und wohl auch nicht im wirklichen Leben.
Trotz ihres geschickten Taktierens ge-
lingt es ihr aber nicht, den Suizid zu ver-
hindern, sondern die
„Technik“
versagt.
Die Waffe ist, damit einen Selbstmord zu
verüben, ungeeignet.
Der Selbstmordversuch
Die Tragödie des Selbstmordversuchs
spielt sich am Ufer der Drau, auf der Höhe
des Kosakenfriedhofs ab; dort also, wo
der Siebenjährige sein entscheidendes Le-
benstrauma erlitten hat.
Die Pistole leistet nur halbe Arbeit. Der
Schuß aus der Waffe schlägt ihm
„nur“
wie nahezu alle Erfahrungen seines bishe-
rigen Lebens – brutal auf den Mund. Den-
noch muß er eine Art
„Abtötung“
bewirkt
haben, denn im weiteren Verlauf des
Romans redet der Protagonist häufig auch
in der Er-Form über sich.
Flora wird schwerstverletzt aufgefunden
und in die Intensivstation gebracht. Dort
verbringt er drei Monate, während derer er
allmählich das Denken, später das Spre-
chen wiedererlernt. Sein Mundraum ist
eine einzige Wunde. Trotzdem empfindet
Gid Flora den Aufenthalt in dieser Station
– nimmt man seine sonstige Gefühlslage
zum Vergleich – geradezu euphorisch.
„Auf einmal empfinde ich eine unbän-
dige Freude an diesem Zustand, der Leben
großartig!“
(G. Foidl,
Der Richtsaal,
S. 76)
Aus etwas anderem Holz geschnitzt ist
der Arztonkel Elmar. Er ist die Speerspit-
ze von Großmutters Familienaufstiegs-
und Absicherungshoffnungen und in allem
ihr wichtigster Handlanger.
Die Großmutter
Die Großmutter nun verdient unser
ganzes Interesse. Sie verkörpert das Ele-
ment einer besonderen Beharrung, ja Ar-
chaik. Das Erzähler-Ich bringt ihr durch-
aus ambivalente Gefühle entgegen. Gid
Flora sieht in ihr seinen eigentlichen Geg-
ner. Sie, so ist er überzeugt, hat sein Leben
zum Scheitern gebracht, und sie, so fürchtet
er, wird auch noch das konsequente Ein-
gestehen seines Scheiterns, den Selbst-
mord, scheitern lassen. Aber sie, so sagt er,
habe im Grunde genommen sehr viel Ähn-
lichkeit mit ihm. Deswegen krache er auch
dauernd mit ihr zusammen. Er könne nicht
abstreiten, daß sie die einzige in der Fa-
milie sei, die er als Gegnerin respektiere.
„Jenseits der Siebzig und kämpft wie eine
Löwin. Sie ist mutig und zäh. Eigenschaften,
die mir sehr viel bedeuten. Ich werde von
hier fortgehen und mir denken: Sie hat sich
tapfer gegen mich gewehrt. Doch das er-
zeugt auch meinen Widerwillen gegen sie.
Weil sie es mir unmöglich macht, nur Böses
in ihr zu sehen. Sie macht es mir schwer.“
(G. Foidl,
Der Richtsaal,
S. 89)
Diese Auseinandersetzung mit der
Großmutter – über weite Strecken gedank-
lich, innenperspektivisch geführt – ist der
entscheidende Sprach- und Geschehensan-
triebsmotor des Romans. Diese Großmutter,
so abstoßend sie uns vor Augen geführt
wird, verkörpert doch auch recht kämpfe-
versucht dem Leser aber
wohl auch besonders be-
wußt zu machen, was aus
diesen Ruinen wächst
und welche Wachstums-
bedingungen der neue
(in diesem Falle „heimat-
liche“) Menschenschlag
zu akzeptieren bereit ist.
Die Auseinanderset-
zung des heroisch und
elendig leidenden Ein-
zelnen, des Gid Flora,
mit
„seiner“
kleinstädti-
schen, infolge der Zeit-
umstände von der allge-
meinen Verdinglichung,
Entsittlichung und Ver-
rohung befallenen Sippe,
später mit der unbarmher-
zigen Norm(alis)ierungs-
maschinerie der Nerven-
heilanstalt ist das Kern-
thema Foidls.
Die Familienhölle
Diese kleinstädtische,
vom Krieg und seinen
Folgen in ihrem inneren
Gefüge sich bedroht
fühlende, um jeden Preis
aufrappelungsorientierte
Familie wird repräsen-
tiert vor allem durch eine
ungeheuer dämonisch, in
gleichem Maße aber fas-
zinierend
gezeichnete
Großmutter. Sie ist der eigentliche, auf je-
den Fall der gewichtigste Antagonist Gid
Floras. Von ungeheurem Machtwillen be-
seelt, ist sie bereit, ihrem einzigen Gott
„Familie“
jedes erdenkliche Opfer zu brin-
gen. Sie manipuliert, geschickt an allen
möglichen
„Schwächefäden“
ziehend, mit
Ausnahme Gids, sämtliche Mitglieder der
Familie. Nur Gid, der Ich-Erzähler, ver-
weigert das Eingeordnet-Werden in diesen
großmütterlichen Familienentwicklungs-
und -erhaltungsplan.
Das männliche Rollenaufgebot, vor al-
lem der Großvater und der Vater des Pro-
tagonisten haben ihre Patriarchenrolle
längst eingebüßt, sofern sie eine solche bei
Vorhandensein einer derart durchset-
zungsfähigen Großmutter überhaupt je-
mals zu spielen in der Lage gewesen sein
sollten. Seinem Vater beispielsweise
schleudert Gid einmal folgendes entgegen:
„Weißt du, daß du ein ganz schäbiger,
feiger Hund bist? Ich hab mein Leben lang
noch nie so etwas gesehen wie deine
Stimmenthaltung bei Gabys Angriffen ge-
gen Mama. Du hast sie ja stets nur als dei-
ne Hausfrau betrachtet. Als eine angeneh-
me Wirtschafterin, die obendrein noch
blendend aussah, mit der man Staat ma-
chen konnte. Vor den anderen heulst du die
Taschentücher voll, wenn die Rede auf Ma-
ma kommt. Aber wenn die Familienmafia
über sie, die sich nicht wehren kann, her-
fällt, steckst du den Kopf in den Sand und
stellst dich taub. So sind sie, die Patriar-
chen, die ich so sehr bewundere! Ein
selbsternannter, unumschränkter Famili-
enherrscher, das möchtest du sein. Dabei
bist du nur ein von Komplexen geschütteltes
Minderwertigkeitsbündel. Du warst schon
In einem der Räume dieses Hauses am Mittereggerkreuz in
Lienz dachte sich Gerold Foidl seinen „Richtsaal“. Hier
wohnten seine Großeltern Ferdinand und Dorothea Gas-
perotti.
Foto: Prof. L. Außersteiner