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Mit dem Wissen von heute
verknüpfe ich die Erinnerungen
eines Zehnjährigen Anfang der
1930er-Jahre, um diese Dar-
stellung der Flachsgewinnung
zu beschreiben, aber auch um
die allgemeine Notlage nicht
aus den Augen zu verlieren.
Der Anlass, der meine
Eltern bewogen hat, in müh-
samer Arbeit den Hoaracker
(Flachsacker) anzulegen, ist
der wirtschaftlichen Situation
zuzuschreiben, als Folge der
großen Weltwirtschaftskrise
von 1928/29, die besonders
das kleine Österreich in die
Zange genommen hat.
Der Vater Johann Kurzthaler
(1880-1962) war Flickschuster
(Abb. 1) in der Gemeinde St.
Veit i. D. In dieser Zeit ist es
vorgekommen, dass er „Kund-
schaft“ hat abweisen müssen,
weil er das Geld nicht gehabt
hat, Leder, Nägel etc. zu kau-
fen. Das Aufschreibbüchl war
voll von Ausständen, die nicht
bezahlt worden sind.
Die Mutter Johanna Kurz-
thaler (1887-1982) war Heb-
amme. Für eine Geburtshilfe
durfte sie 10 Schilling ver-
langen. Es gab Familien, wo
das nächste Poppele schon da
war, aber die 10 Schilling
für die Geburt des älteren
Geschwisterchens noch nicht
bezahlt waren.
Geld war große Mangelware
und nur durch Verkauf von
Vieh, Butter, Graukäse, Eiern,
Speck oder Arbeitsleistung zu
bekommen.
Die Schnallendrücker (Schnalle =
Türklinke) gaben sich die Tür in die Hand;
„I bitt um an Groschn“.
war ein Bauernhaus mit ange-
bautem Stall und Scheune.
Die Eltern fütterten eine Kuh,
zwei Geißen, ein Schwein und
Hennen. Mit Pachtfeld wurde
das Futter beschafft.
Zum Schuhe flicken benö-
tigte der Vater Zwirn, um
Schusterdraht
1
herzustellen,
und zum „Fotschn“ (Haus-
schuhe) machen brauchte
Mama auch Zwirn, aber an
erster Stelle stand Zwirn
als Ausgangsmaterial für die
Herstellung von Betttuch
(Bett-laken).
Um diese Bedürfnisse in
dieser Notzeit abzudecken,
war es naheliegend, Flachs
selbst anzubauen. Die Eltern
entschlossen sich dazu.
Über die Flachserzeugung
und -verarbeitung gibt es
mehrfach Lektüre.
Meine Darstellung ist auf
die Weiler Ratschitsch und
Außeregg zugeschnitten, wo
das Geschehen stattgefunden
hat. Der Ablauf wie auch das
Handwerkzeug muss in ande-
ren Tälern, Regionen nicht
eine Kopie sein.
Der Umbruch – eine Wiese
wird Acker
Der Hoaracker entsteht im
Pachtfeld „Praster Doul“.
Benötigte Werkzeuge/Ge-
räte (Abb. 2):
Schlüthacke (= Rasenha-
cke) ersetzt das Schneideisen
am Pflug, Schaufel, Acker-
haue, Rechen, Krautegge (aus
Holz), Pickel, notwendig, um allen-
falls größere Steine auszuheben, Korbstuhl
und Korb.
Das Vaterhaus mit dem Hofnamen
„Weger“, in Ratschitsch (heute Fraktion
Görtschach) amWeg nach St. Veit gelegen,
NUMMER 11/2012
80. JAHRGANG
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Abb. 8: Johanna Kurzthaler, Mutter von Hans, am Spinnrad, 1968.
Foto: Hans Kurzthaler
Hans Kurzthaler
Flachsanbau im Defereggen –
ein Zeitzeuge erinnert sich