Seite 4 - H_2001_09

Basic HTML-Version

sprungs; er wird von
jasje
„baumlose Ge-
gend“ oder von
jes
„Esche“ abgeleitet. Die
zum
Jesacher
gehörige Alm liegt am Weg
über den Pfoisattel oder das Villgrater
Törl. Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass
die
Pötscher
und die
Jesacher
neugierig
waren, wie es um die Weide „hinterm
Berg“ bestellt war. Sie erkundeten wohl
auch die Übergänge bis über den
Schwarzsee hinaus in die Gegend des Tob-
lacher Pfannhorns, ob sie vor allem für den
Viehtrieb geeignet waren. Und so entstand
das ganz eigentümliche Nebeneinander
von Namen für an sich gleichartige Über-
gänge am Kamm vom Deferegger bis zum
Toblacher Pfannhorn: Törl, Sattel,
Schartl, Jöchl, Lenke (das ladinische
for-
cela
„kleines Joch“, von lateinisch
forca
„Gabel“, ist nicht dabei!). Auf diesem
Bergkamm ist also eine Palette „uriger“
sinnverwandter Worte überliefert.
Und Karl Finsterwalder schreibt: „Ein
sehr altes Wort, das in den Zillertalern einst
gebräuchlich war für Bergjoch, Einsenkung,
ist ,die Lenke‘ oder ,das Gelenk‘, es lebt in
der Prettau als ,Lenkjöchl‘, ,Lenkspitz‘
noch fort. Die Übergänge vom Zillertal
nach Ahrn (Euren) hießen ,Eurerlenke‘,
,Eurergelenk‘. Man fand die Einbuchtung
der Kammlinie, die für den Aufwärtsbli-
ckenden ein Bergjoch darstellt, offenbar mit
der Einschnürung des menschlichen Kör-
pers an der Hüfte (= mhd.
gelenke
) ver-
gleichbar, möglicherweise spielte auch der
alte Sinn von ,lenken‘ = ,biegen‘ herein –
auf die Kammlinie angewandt.“ (Tiroler
Ortsnamenkunde, Band 2, Seite 593)
Das
mittelhochdeutsche
gelenke
„Taille“ (laut Lexer) bedeutet auch „bieg-
sam, gelenkig“, es ist gebildet von
lanke
,
althochdeutsch
(h)lanka
„Hüfte“ (um
800), eigentlich, „Stelle, an der man sich
biegt“. Das Wort wurzelt in indoeuropäisch
kleng
- „biegen, winden“, vergleiche latei-
nisch
clingere
„umgürten“; litauisch
lenkti
„biegen, krümmen“,
lenke
„Vertiefung“.
Dem Verfasser geht es nicht darum, ob die
Slowenen oder die Baiern die Bezeichnung
in diesem Teil der Alpen für „Übergang“
geprägt haben. Es scheint so, dass der Be-
griff wirklich sehr alt ist, dass ihn also Slo-
wenen wie Baiern aus einer älteren alpinen
Sprache übernommen haben. Auffällig ist
nur, dass sich in den Bereichen des heutigen
Osttirol, in denen seinerzeit Slowenen bis
zum Alpenhauptkamm vordrangen und sie-
delten, also seit der Zeit um 600, der Begriff
häufig vorkommt und allgemein gebraucht
wird. In Kals etwa lebten sie mit romani-
sierten Kelten zusammen; die Namenkunde
beweist, dass die Eingesessenen mit den
Zugewanderten jahrhundertelang neben-
einander gehaust und gewirtschaftet
haben. Nur so ist das „Überleben“ romani-
scher Namen bis in die bairische Zeit zu er-
klären, das gleiche gilt auch für sloweni-
sche. Finsterwalder meint, dass in Kals die
deutsche Sprache erst im 13. Jahrhundert
die Oberhand gewonnen hat. Im Villgraten
soll sich das Alpenromanische bis ins frühe
14. Jahrhundert gehalten haben. Eine der
vielen Bezeichnungen, die slawischen Ur-
sprungs sind und in der Iselregion überdau-
ert haben, wird wohl „Lenke“ sein. In einer
Grenzbeschreibung „
umb das gericht Vir-
gen der Herrschaft Lienz zuegethan
“, ver-
fasst am 15. März 1583 zu
Schloss Raben-
stain
, sind als Bezeichnungen für Über-
gänge „Törl“ und „lenckh“ angeführt.
In der Bergumrahmung von
Alfen
gibt es
zwei wohlklingende Namen, die miteinan-
der nah verwandt sind:
Pürglers Ggungge
und
Marchgginggele
.
Ggungge
(Verkleine-
rung
Gginggile
) stammt von lateinisch
con-
cha
„Muschel, Muschelschale“ (altgrie-
chisch
kónche
„Muschel“, im übertragenen
Sinn „Hirnschale“). Eine Muschelschale
kann ein „Sinnbild“ für eine Erhebung und
Vertiefung zugleich sein: eine Seite ist er-
haben, die andere eingetieft. In den Bergen
um Villgraten und Gsies (im gesamten öst-
lichen Pustertal bis zur Lienzer Klause) hat
sich die griechisch-romanische „Muschel“
im Sinn von Wölbung erhalten, jede kleine
Erhebung in einer Bergwiese oder Alm-
weide wird mit diesem von alpenromani-
schen Hirten geprägten Namen bezeichnet,
aber auch abgerundete flache Kuppen in
Bergkämmen. Im Vinschgau hat sich da-
gegen der Begriff im Sinn von Eintiefung
erhalten: ein Weideplatz zwischen zwei An-
höhen,
concha
bedeutet dort also „die
Mulde“.
In nächster Nähe der
Pürglers Ggungge
findet sich der Name
Fisell
für einen Über-
gang zwischen dem Gsieser Versell (laut
Karte) und
Alfen
(Kalkstein). In Innichner
Urkunden (siehe vorne bei
Alvala
) scheint
auch der Almname
Uallesella
=
Vallesella
auf. Das lateinische
sella
(älter
sed-la
, von
sedere
„sitzen“, altindisch
sad-
„sich set-
zen“) bedeutet im Alpenromanischen nicht
nur „Sitz, Sessel“, sondern auch „Sattel“ im
Sinn einer Senke im Berggrat zum Drüber-
gehen (vergleiche Sella, den Übergang von
Gröden nach Fassa).
Vallesella
ist also ein
„Übergangstal“. Über
Fisell
(= Versell-
scharte), über die
Pürglers Lenke
(die Gsie-
ser sagen nur
Lenke
) und die
Schmalzpulle
(die Villgrater sagen
Gruiba Lenke
) gelang-
ten Mensch und Vieh (nahezu) mühelos ins
Villgraten. Auch das kartographisch so be-
nannte Versell in Außervillgraten ist ein
„Übergangstal“. Im Übrigen steht in der Ka-
tastral-„Urmappe“ von Außervillgraten,
um 1860 von Militärkartographen erstellt,
die alte Form „Fiseler Berg“ für Verseller-
berg. – In modernen Karten mag allgemein
Versell stehen, trotzdem sagen ältere Ein-
heimische in Gsies sehr deutlich
Fosäl
(an-
gelehnt an die überlieferten Formen
Fisell
oder
Fisel
). Noch ein romanischer Ber-
gname: Im Süden der
Pürglers Lenke
erhebt
sich die Rosserspitze (laut Karte). So wie
das Roßtal (bei Kalkstein) hat diese Be-
zeichnung mit Roß (Pferd) überhaupt
nichts zu tun. Alpenromanische Hirten
haben die „Rosserspitze“
rossa
„die Rote“
genannt – ein Hinweis auf den rötlichen Fels
(vergleiche Rotlahner oder die
Reate
).
Dazu ein alter, deutscher Bergname: Von
Unterstolla
aus ist der Heimwald (laut
Karte) im Grenzkamm zwischen Gsies und
Villgraten zu sehen. Die Gsieser sagen
Hamwalt
, die Villgrater
Hoamwalt
. Der
erste Teil des Namens stammt von mittel-
hochdeutsch
hamel
„schroff abgebrochene
Anhöhe, Berg“,
hamel-stat
heißt ein „zeris-
senes, abschüssiges Gelände“. Das Wort
wurde dann nicht mehr verstanden und
schriftlich (für Karten) an „Heim“ oder
„Heimat“ angenähert. Der zweite Teil be-
deutet wohl „abgerundet“, von germanisch
walto
„Walze, Rolle“ (in Tux/Zillertal be-
deutet
walzik
„rund“). Der Augenschein
von allen Seiten beweist es: Dieser Berg ist
„der Runde mit den schroffen Abbrüchen“.
Notabene: Was gedruckt ist (in Karten etc.),
muss nicht immer stimmen.
Literatur
Bergbonifizierungskonsortium Gsies/Taisten, Das
Gsieser Tal, Gsies 1997 (Kapitel von Egon Kühebacher
„Orts- und Flurnamen vordeutschen Ursprungs als Zeugen
der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte des Gsieser
Tales“)
dtv – Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Mün-
chen 1997
Anton Draxl, Über die Jöcher – Natur und Kultur in
Gsies und Villgraten, Gsies/Innervillgraten 2001
Karl Finsterwalder, Tiroler Familiennamenkunde,
Schlern-Schriften 284, Innsbruck 1990
Karl Finsterwalder, Tiroler Ortsnamenkunde, Schlern-
Schriften 285, 286 und 287, Innsbruck 1990
Valentin Hintner, Die Gsieser Namen – Orts-, Flur- und
Personennamen, Wien 1909
Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörter-
buch, Stuttgart 1992
Peter Paul Passler, Grundzüge der Besiedlung des De-
fereggentales, in: Osttiroler Heimatblätter 7-8/1926
Josef Schatz, Wörterbuch der Tiroler Mundarten,
Schlern-Schriften 119 und 120, Innsbruck 1993
Johann Baptist Schöpf, Tirolisches Idiotikon, Vaduz
1993 (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1866)
Otto Stolz, Die Schwaighöfe in Tirol, in: Wissenschaft-
liche Veröffentlichungen des D. u. Oe. Alpenvereins 5,
Innsbruck 1930
Franz Unterkircher, Die Grenzen der Gerichte Kals, Vir-
gen und Defereggen im Jahr 1583, in: Osttiroler Heimat-
blätter 9-10/1949
Hermann Wopfner, Bergbauernbuch, Schlern-Schriften
296, 297 und 298, Innsbruck 1997
Hermann Wopfner, Eine siedlungs- und volkskundliche
Wanderung durch Villgraten, in: Zeitschrift des Deutschen
und Österreichischen Alpenvereins, Band 62 und 63, Jahr-
gang 1931 und 1932, Innsbruck
Hermann Wopfner, Siedlungsgeschichte, in: Das Vill-
grater Gebirge, Bericht des Akademischen Alpinen Vereins
über die Vereinsjahre 1928/29 und 1929/30, Innsbruck.
Alle Farbbilder: Anton Draxl, Lienz
O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
69. Jahrgang –– Nummer 9
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren
verantwortlich.
Anschrift des Autors dieser Nummer:
Dipl.-Ing. Anton Draxl, A-9900 Lienz, Am Hai-
denhof 15.
Manuskripte für die „Osttiroler Heimat-
blätter“ sind einzusenden an die Redaktion
des „Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Piz-
zinini, A-6176 Völs, Albertistraße 2a.
Unterstolla am 31. Juli 1933 – auf der
Reate liegt Neuschnee. Die Kapelle wurde
um 1910 erbaut und Chrysanth und Daria
geweiht, dem Heiligenpaar in Viehnöten.
Foto: Josef Wasicek, Wien