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O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
69. Jahrgang –– Nummer 11-12
D
ie 1468 geweihte Korbinianskirche in
der Nähe der Ortschaft Thal ist ein
stattlicher Saalbau mit polygonalem
Chorschluss. Sie wird geschmückt durch
ein weitgespanntes Netzgewölbe, dessen
quadratische Schlusssteine mit Heiligen-fi-
guren bemalt sind, welche Friedrich
Pacher zugeschrieben werden. Aus der-
selben Werkstatt in Bruneck stammt der
ehemalige Hochaltar, dem man nun einen
ungünstigen Platz an der Südseite des
Langhauses zugewiesen hat. Stilistisch
anzuschließen ist ferner der kleinere
Magdalenenaltar, der rechte Seitenaltar am
Eingang zum Chor, mit dem Datum 1498
auf der Rückseite der Predella. Es gibt also
mehrere Arbeiten aus der Pacher-Werk-
statt in St. Korbinian, was angesichts der
örtlichen Verhältnisse leicht erklärt wer-
den kann: Bruneck war das künstlerische
Zentrum im Pustertal, und die Pfarre
Assling war dem Augustiner-Chorherren-
stift Neustift inkorporiert, das wiederum in
enger Verbindung mit der Familie Pacher
stand.
Der alte Hochaltar, meist als Korbi-
niansaltar bezeichnet, besteht nur noch aus
dem Schrein und der wiederangefügten
Predella
1
. In der schmalen Mittelnische ist
eine Statue des Kirchenpatrons aufgestellt,
die aus Lajen bei Klausen stammen soll
und Hans Klocker zugeschrieben wurde
(um 1480)
2
. Diese wird flankiert von zwei
etwas weniger breiten Tafelbildern mit
den hll. Petrus und Paulus in fingierten
Nischen, sodass sich ein Tableau mit drei
Abteilungen ergibt (Maße: 237 x 199 cm).
Darunter sitzt die querrechteckige Predella
mit der Darstellung der Wunder des hl.
Korbinian (Maße: 66 x 143 cm, ohne Rah-
men). Die Flügelbilder galten bisher als
verschollen, sind aber durch ältere, nicht
publizierte Fotografien überliefert; sie zei-
gen, ebenfalls in Nischen, die hll. Florian
und Maria Magdalena auf den Innenseiten
sowie die Hll. Andreas und Korbinian auf
den Außenseiten. Hinzudenken müsste
man sich noch einen – eher bescheidenen
– Auszug, in dem möglicherweise weitere
Bildwerke untergebracht waren (Kreuzi-
gung, Erbärmdegruppe?). Das Programm
des Retabels ist also weitgehend bekannt,
doch fragt man sich, wie die Auswahl der
Heiligen zu Stande kam und welche Figur
ursprünglich in der Schreinmitte zu sehen
war (Madonna?). Eine doppelte Dar-
stellung des hl. Korbinian wäre zumindest
ungewöhnlich.
Der Altar wird erstmals erwähnt in der
Diözesanbeschreibung von Georg Tink-
hauser (1855)
3
. Eingehender mit ihm be-
fasst haben sich dann Johann Walchegger
(1893), Robert Stiassny (1904) und vor
allem Hans Semper (1911)
4
. Zu dieser Zeit
war der Altar, ohne die schon verlorenen
Flügel und ohne die separat aufgestellte
Predella, mit dem Magdalenenaltar zu
einem doppelgeschossigen Retabel ver-
einigt und stand als rechter Seitenaltar an
der Grenze zwischen Chor und Langhaus.
1927 wurden einige Tafelbilder aus der
Kirche gestohlen, darunter auch die
Predella des Korbinianaltars. Nach der
Wiederauffindung wurden sämtliche Ge-
mälde 1928/29 in der Werkstatt des Kunst-
historischen Museums in Wien restauriert.
Von dort gelangten alle Altäre aus St. Kor-
binian 1931/32 in die Stadtpfarrkirche
St. Andrä nach Lienz, um eine sichere
Aufbewahrung zu gewährleisten. Erst
1955 erfolgte die Rückführung nach
Thal-Assling, wo die Altäre ihre jetzigen
Standorte erhielten
5
.
Wann die Flügelbilder verschwunden
sind, ist heute nicht mehr genau festzu-
stellen
6
. Erwähnt werden sie – ohne An-
gaben zur Geschichte und zum Aufbe-
wahrungsort – in dem Pacher-Artikel von
Prinz Joseph-Clemens von Bayern
(1932) und, darauf fußend, in der Disser-
tation von Elisabeth Herzig (1973)
7
. Sicher
nachweisbar sind die Tafeln jedoch in der
Sammlung des Amsterdamer Kunsthänd-
lers Jacques Goudstikker auf Schloss
Nijenrode bei Breukelen. Sie gehören zu
jenen Werken, die nach der Flucht und
dem frühen Tode Goudstikkers bei der un-
rechtmäßigen Liquidation der Kunst-
handlung am 13. Juli 1940 von Hermann
Göring erworben und seiner Sammlung in
Carinhall einverleibt wurden. Wie die an-
deren Kunstschätze auch, gelangten die
Bilder bei der Evakuierung 1945 mit dem
Zug nach Berchtesgaden und von dort zum
Central Collecting Point nach München.
1946/47 kamen sie zurück in die Nieder-
lande und wurden dort Teil der „Stichting
Nederlandsch Kunstbezit“, für deren
Verwaltung der „Rijksdienst Beeldende
Kunst“ in Den Haag verantwortlich war
(heute „Instituut Collectie Nederland“)
8
.
Seit 1963 befinden sich die Gemälde als
Leihgaben des Staates im Stedelijk Mu-
seum Zutphen, wo sie von der Pacher-For-
schung nicht bemerkt wurden. Sie haben
die Maße 223 x 77 cm (ohne Rahmen) und
sind nach mehreren Eingriffen und Res-
taurierungen nicht sonderlich gut erhalten
9
.
Rekonstruiert man nun das Retabel, so
ergibt sich bei geöffneten Flügeln eine
Schauwand mit fünf Nischen. Im mittleren
Gehäuse mit plastisch ausgeführtem So-
ckel und Baldachin steht die – allzu kleine
– Figur des hl. Korbinian. Daneben befin-
den sich die gemalten Nischen mit übereck
gestellten Postamenten und passenden
Maßwerkbaldachinen, deren Gliederung
auf die Flügelinnenseiten übertragen
wird. Die restliche Bodenzone ist in durch-
aus befremdlicher Weise als Pflanzen-
grund interpretiert, während hinter und
über den Nischen ein einfacher Goldgrund
aufscheint. Geachtet wird auf eine ein-
heitliche Höhe der Sockel und Baldachine,
doch zeigen sich Probleme bei der Be-
handlung der Perspektive: Die Stand-
flächen in den gemalten Nischen sind in
starker Aufsicht wiedergegeben, und die
Kielbögen der Baldachine werden nicht
genau auf die sich verkürzenden Maß-
werkabschlüsse bezogen. Eigenartig sind
die Verhältnisse insofern, als die Flügel-
nischen breiter angelegt werden mussten
als die drei Abteilungen im Schrein, wo-
durch die Figuren mehr Platz gewinnen
und vor dem nun deutlich sichtbaren Gold-
grund eine Auszeichnung erfahren. Abge-
wandelt wird dieses System dann auf der
Außenseite des Retabels durch die Ein-
führung halbrunder, muschelverzierter
Nischen, die von einem Rechteckrahmen
umschlossen werden. Die Standfiguren
sind hoch aufgesockelt und reichen mit
ihrem Kopf in den Bereich der Muschel-
kalotte hinein. Seltsam bleiben aber die
Postamente in Form übereck gestellter,
sich zur Standfläche erweiternder Konso-
len, sodass der Wechsel des Architektur-
stiles nicht ganz überzeugt.
Das Retabel verkörpert demnach einen
ungewöhnlichen Typus, eine Art Polyp-
tychon italienischer Prägung in Gestalt
eines Flügelaltars. Das Nischenkonzept
mit den eingestellten Figuren ist aber in
enger Auseinandersetzung mit der Tradi-
tion einheimischer Altäre entstanden und
geht letztlich auf niederländische Vorbil-
der zurück. Zu den Voraussetzungen ge-
hört sicherlich Michael Pachers Kirchen-
väteraltar für Kloster Neustift, heute in der
Alten Pinakothek in München (um 1475),
wo den vier großen Sitzfiguren reich ver-
zierte Baldachingehäuse zugeordnet sind;
hier ergibt sich trotz der Anlage als Flügel-
altar eine einheitliche Bilderschauwand mit
ausgeklügelter Perspektive, die auch eine
konvergierende Verkürzung der Flügel-
baldachine beinhaltet
10
. Im Werk Friedrich
Pachers wäre der Altar aus der Spital-
Die
goti-
sche
Kirche
von St.
Korbi-
nian in
Thal-
Assling,
die
wert-
volle
Kunst-
werke
birgt.
Foto:
Rai-
mund
Hainzer