Seite 2 - H_2003_01

Basic HTML-Version

O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
71. Jahrgang – Nummer 1
deutschtiroler Mundart heißt ein stehen-
der, dürrer Baum
schwente
, vergleiche
schwentn
, von mittelhochdeutsch
swenden
„durch Absterbenlassen der Bäume roden“,
althochdeutsch
-swenten
„vernichten“
7
– die
einfachste Methode, Bäume zu vernichten,
zum Verschwinden zu bringen, ist das soge-
nannte „Ringeln“: Der Saftstrom wird
durch ringförmiges Entfernen der Rinde,
etwa 20 cm hoch um den Stamm herum,
unterbrochen
8
. Der Baum „verdurstet“, er
wird dürr und verliert Blätter oder Nadeln.
Mit dieser Methode wurden im Wald kleine
Weideblößen geschaffen, weil die dichten
Baumkronen das Sonnenlicht nicht mehr
vom Boden abschirmten – Gräser, Kräuter,
Disteln und andere Pflanzen, die Schatten
nicht schätzen, konnten gedeihen.
Ob der Ortsname Tilliach mit dem latei-
nischen
tilia
„Linde“
9
, altgriechisch
pteléa
„Ulme“
10
, verwandt ist? Ein Almtal in der
Nachbarschaft haben Alpenromanen nach
dem Bergahorn,
Acer pseudoplatanus
, be-
nannt, nämlich Villgraten (1187
Valcratto
,
alpenromanisch
Vall acrato
= Ahorntal
11
,
von lateinisch
vallis
„Tal“,
acer
„Ahorn“, ei-
gentlich „spitz“
12
– die Blätter des Berga-
horns haben spitze Einschnitte). Es wird
wohl so gewesen sein, dass die Gail im Be-
reich des heutigen Tilliach auffällig von Lin-
den und Ulmen gesäumt war: Die Winter-
linde,
Tilia cordata
(von lateinisch
cor
„Herz“
13
– bezieht sich auf die herzförmigen
Blätter) und die Bergulme,
Ulmus montana
,
gedeihen noch auf dieser Seehöhe
14
. Im übri-
gen war die Waldgrenze um Christi Geburt
nach oben verschoben, die mittlere Som-
mertemperatur in Mitteleuropa lag nämlich
damals höher als die aktuelle Temperatur
15
:
Diese Laubbäume konnten also entlang der
Gail bestens gedeihen. Die ersten Hirten
unterschieden nicht botanisch zwischen
Linde und Ulme, sie interessierte nur das fri-
sche Laub, das sie im Frühsommer von den
Bäumen rupfen (was die Weidetiere mit
ihrem Maul nicht selbst erreichten) und ver-
füttern konnten. Linden und Ulmen bieten
besonders nahrhaftes Laub (neben Eschen
und Haseln); es wurde von den ersten Hirten
zu „Heu“ getrocknet und verfüttert, wenn
mitten im Sommer Schnee fiel und die Tiere
nichts zum Weiden fanden (in der Höhen-
lage der Almen von
Tiliun
keine Seltenheit).
Apropos: Das heutige Maria-Luggau heißt
laut Anich-Karte von 1774
Luckau
; das
mittelhochdeutsche
luchen
heißt „schließen;
an sich ziehen; ins Haus nehmen“, aber auch
„zupfen, rupfen“. – Ob dort in der Au Laub
als Viehfutter gerupft wurde? Von Ästen,
die „an sich gezogen“ und abgeschnitten
wurden?
16
Beda Weber schrieb über „Lu-
ckau“: „Die Umgegend des Heiligthums ist
unfreundlich, ein weiter strauch- und stau-
denüberwucherter Spielraum der zerstören-
den Geil, welche die ganze Gegend be-
herrscht, und den Anbau behindert. Desto
herzerfreulicher nimmt sich die Wall-
fahrtskirche und das Servitenkloster aus
…“
17
. Der Name, erstmals als
Luckaw
1374
erwähnt, wird von Pohl aber vom sloweni-
schen
lukavati
„spähen“ hergeleitet (ein
„Grenzposten“ wie die „Wacht“ auf Tiroler
Seite des Eggenbaches).
18
Kartitsch, als Alm
Kartitsa
in einer Ur-
kunde von Kaiser Otto I. für die bischöf-
liche Kirche Freising (Kloster Innichen)
965 erstmals erwähnt
19
, soll der romanische
Stamm
card-
zugrundeliegen
20
. Die einen
Sprachforscher meinen, es stamme von
lateinisch
carduus
„Distel“
21
, also „die
locker bewaldete Gegend, wo viel Disteln
wachsen“ – ein Hinweis auf gerodetes
Land? Disteln schätzen, mit Ausnahmen,
Sonnenlicht – vergleiche
Cardizzen
, eine
Alm bei Würmlach im Gailtal,
Cardessen
bei Kötschach, 1374 als
Cardissen
ge-
nannt
22
. Das Wort stammt von lateinisch
carere
„Wolle krempeln“
23
– vergleiche
kartátschen
„Wolle zausen, lockern;
24
die
Karde oder „Weberdistel“ ist eine alte Kul-
turpflanze, deren stachelige Blütenköpfe
zum Aufkratzen von Wolle gebraucht wur-
den
25
. Andere Sprachkundler meinen,
Kartitsch leite sich von
cardo
„Türangel;
Wendepunkt; Grenzscheide“ her
26
. Nun,
die kaum merkbare Landschwelle, über die
man nach Tilliach gelangt, ist eine
„Wende“ (Wasserscheide) – oder ist gar
die Grenze zwischen der römischen Pro-
vinz
Noricum
und
Italia
gemeint, die wahr-
scheinlich am karnischen Kamm verlief? –
Wer weiß es? – Wir können die ersten
„Kartitser“ nicht befragen.
Die Sage, daß Tilliach eine romanische
Roßalm gewesen sei, hat einen wahren
Kern (laut Staffler, siehe Anm. 33). Die
ersten Siedler sollen sich deren Besitz mit
Gewalt errungen haben, es ist die Rede von
fast dauernder Fehde zwischen Nord und
Süd, ja von Mord und Brand. Öfter kam es
zu Überfällen. Und die Tilliacher schützten
sich in altbewährter Manier vor den Ro-
manen, die auf ihre alten Rechte pochten.
Die deutschen Siedler mußten ihr Dorf so
errichten, daß es leicht verteidigt werden
konnte. Sie bauten eng zusammen, um die
Verteidigungslinie kurz zu halten – so wie
Rätoromanen etwa im Engadin und in
Westtirol schon viele Jahrhunderte früher
Siedlungen in gedrängter Bauweise zu
ihrer Sicherheit bevorzugten. Sie erinnern
an die
arces
, die Burgen der rätischen
Stämme, die Horaz in seiner Ode auf den
siegreichen
Drusus
erwähnt hat, und an die
„Anfang des venedigschen kriegs. Slagen hern Sixt trautson im Kadober“. Die schwere
Niederlage von Tiroler Knechten unter dem Feldhauptmann Sixt Trautson gegen die Ve-
nezianer am 2. März 1508 in Pleif/Pieve di Cadore – Darstellung aus dem „Weißkunig“,
signiert von Hans Burgkmair (H. B. – zweites Pferd von rechts). Dieses Werk ist die Selbst-
biographie Maximilians in Prosa, um 1505 begonnen und 1516 abgeschlossen: Er be-
zeichnete sich selbst als „weißen“ König nach dem weißen Harnisch, den er in Turnieren
und im Kampf zu tragen pflegte. Der Text wurde nach eigenhändigen Aufzeichnungen und
Diktaten des Kaisers in drei Teilen verfaßt. Das Werk, das niemals abgeschlossen wurde,
illustrieren insgesamt 251 Holzschnitte. Alle Unterlagen (Manuskripte, Probedrucke) be-
fanden sich ursprünglich in der Ambraser Sammlung in Innsbruck, sie kamen 1665 in die
kaiserliche Hofbibliothek (heute Nationalbibliothek in Wien). – Die Reproduktion wurde
nach einer Vorlage des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum angefertigt.