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gangen, schreibt Primo Levi:
„In den La-
gern kommt einem die Gewohnheit des
Hoffens abhanden und auch das Vertrauen
in die eigene Vernunft. Im Lager ist das
Denken unnütz, denn die Geschehnisse
treten zumeist in unvorhergesehener
Weise ein; und zudem ist es schädlich,
denn es erhält eine Sensibilität, die ein
Quell des Schmerzes ist und die irgendein
vorsorgliches Naturgesetz stumpf macht,
sobald die Leiden ein bestimmtes Maß
überschreiten.“
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David Holzer be-
schreibt seine Haltung im Emslandlager
und in Fort Zinna wiederholt mit dem
Wort
Gleichgültigkeit
.
Man ist schon ein
bisschen gleichgültig gewesen, gleichgül-
tig. Gegen einen selber auch.
Und nach
einer Pause fährt er fort:
Das hat es ge-
braucht. Wenn ich so im Lager war und
Neulinge gekommen sind, dann habe ich
sie überschaut und eingeschätzt, das wird
einer aus der Stadt sein, das könnte ein
Bauer sein. Ich habe schon im Gefühl ge-
habt, der wird es nicht lange ertragen. Ich
habe mir immer so ein Urteil gemacht.
Seelisch, moralisch und körperlich, da hat
alles zusammengehangen, dass es der
Mensch einfach nicht ausgehalten hat.
Im Bewährungsbataillon mussten Solda-
ten kämpfen, die von Kriegsgerichten ver-
urteilt worden waren.
Soldaten, die nicht
im Gleichschritt marschiert sind,
wie
David Holzer sagt. Seine Einheit wird zer-
rieben. Als ihn Rotarmisten auf einem
Bauernhof versteckt finden, rettet ihn sein
Soldbuch. Der Kommandant sieht, dass
David Holzer einem Strafbataillon ange-
hört. Als Nazi-Gegner wird er von der
Roten Armee gut aufgenommen. Schließ-
lich erlebt er gemeinsam mit den sowjeti-
schen Soldaten das Kriegsende.
Wir sind
im Stroh gelegen in der Nacht, in der Früh
dann Geschrei: Davide! Mich haben sie
immer Davide genannt.
David Holzer lacht
jetzt laut, er stellt die Freudenschreie der
sowjetischen Soldaten nach.
Wojna kaputt,
Hitler kaputt, Goebbels kaputt, Ribbentrop
kaputt, nemecka kapitulira. Die haben
auch alle irgendwie eine Freude gehabt, es
haben alle die Schnauze voll gehabt vom
Krieg.
Als er sich stark genug fühlt, macht
er sich, ausgestattet mit sowjetischen Ent-
lassungspapieren, auf den Heimweg nach
Osttirol. An der tschechischen Grenze neh-
men ihn jedoch Soldaten fest und ver-
pflichten ihn zur Zwangsarbeit. Weih-
nachten 1945 flieht er und kehrt im Jänner
1946 als 22-Jähriger endlich nach Osttirol
zurück. Seinen Bruder Alois trifft er nicht
wieder, er ist im Bewährungsbataillon im
März 1945 bei Brünn gefallen.
Nach dem Krieg habe ich überhaupt
nicht geredet. Zu den Eltern habe ich nie
ein Wort verloren. Sie haben mich nie ge-
fragt, wie ist es euch ergangen und ich
habe die Eltern nie gefragt.
Die Eltern, David und Stefanie Holzer,
beide damals schon sechzig Jahre alt, wur-
den im Juni 1944 vom Landgericht Kla-
genfurt wegen Unterstützung ihrer fah-
nenflüchtigen Söhne zu zehn bzw. sechs
Monaten Gefängnis verurteilt. Den Eltern
gelang es mit Hilfe eines Rechtsanwaltes
jedoch, den Haftantritt immer wieder auf-
zuschieben, sie mussten den Hof glückli-
cherweise nie verlassen. Die Ortsbauern-
führung in Glanz, das Forstamt in Lienz,
das Sägewerk Vergeiner und die Kreis-
bauernschaft Lienz bestätigten zudem die
Unabkömmlichkeit der Eheleute Holzer,
es gab aber auch Gegenstimmen.
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David Holzer sprach erst in den 60er-
Jahren bei einem Nachbarn einmal über
seine Desertion und die Verfolgung unter
dem Nationalsozialismus.
Ich habe es wie-
der sein lassen müssen. Ich war danach
ein paar Tage ganz verwirrt. Ich war prak-
tisch überfordert damit.
Erst Anfang der 80er-Jahre äußerte sich
David Holzer noch einmal. Anlässlich des
Todes seines Nachbarn Florian Pedarnig
schrieb er einen Nachruf im Osttiroler
Boten, in dem er die Desertion und das
Schicksal der Gruppe kurz schilderte.
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Florian Pedarnig war im Herbst 1943 zu-
fällig auf das Lager der Deserteursgruppe
gestoßen. Pedarnig behielt seine Ent-
deckung für sich. Als Ortsbauernführer
unterstützte er später das Gnadengesuch
von David Holzer, der sich dafür posthum
bei ihm bedankte. Einzige Reaktion der
Öffentlichkeit war eine anonyme Zu-
schrift, die ihm zu schweigen empfahl.
David Holzers Leben ist nach dem Krieg
von harter Arbeit auf dem Bauernhof ge-
prägt. Die Erlebnisse unter dem Nazi-Ter-
ror lassen ihn aber nie mehr los.
Man sin-
niert da manchmal so leer …, weil man es
einfach in einem drinnen hat, das lässt sich
nicht wegstecken.
Den Überlebenden ist
die Erinnerung an die Zeit, in der sie keine
Menschen waren, unauslöschlich ins Ge-
dächtnis eingebrannt, heißt es bei Primo
Levi. Paradoxerweise blieb an Deserteuren
in der Zweiten Republik oftmals der Makel
von Feigheit, Defätismus und Verrat hän-
gen. Er selbst habe sich nie als fahnen-
flüchtig angesehen, erklärt David Holzer.
Ich war ja nicht vereidigt.
Über sein Ge-
sicht huscht ein verschmitztes Lächeln.
Ich
habe bei der Vereidigung in Klagenfurt die
Hand nicht gehoben. Das habe ich schon
vor der Vereidigung immer gesagt, wenn
es möglich ist, lasse ich meine Hand unten.
Es war ein großes Risiko, aber ich habe sie
herunterhängen lassen, als alle anderen
ihre Hand gehoben haben.
Immer noch sind in Österreich (im
Unterschied zu Deutschland) die Nazi-Ur-
teile gegen Deserteure nicht aufgehoben.
Immer noch hindert sie oftmals familiärer
und sozialer Druck daran, über ihre trau-
matischen Erlebnisse zu sprechen. Es ist
hoch an der Zeit, ihre Isolation zu durch-
brechen und das Gedenkmonopol der Ka-
meradschaftsverbände beiseite zu schieben.
Anmerkungen:
1 Das Interview wurde vom Autor und Hannes Metzler
geführt. Hannes Metzler ist Mitarbeiter des For-
schungsprojektes „Österreichische Opfer der NS-Mili-
tärgerichtsbarkeit“ unter der Leitung von a. o. Univ.-
Prof. Dr. Walter Manoschek (Uni Wien). Die Verant-
wortung für die hier in den kursiven Passagen
wiedergegebenen Auszüge aus dem Interview liegt
allein beim Autor. Im Juni ist im Mandelbaum-Verlag
das Grundlagenwerk Walter Manoschek (Hg.): Opfer
der NS-Militärjustiz, Wien, 2003, erschienen. Vgl. auch
Peter Pirker: Vom Ungehorsam, Journal Panorama, Ö1,
ORF, 2002.
2 Martin Kofler: Osttirol im Dritten Reich, Innsbruck,
1996.
3 Herbert Exenberger (DÖW) hat erst kürzlich die Namen
der dort erschossenen „ungehorsamen Soldaten“ eruiert.
Herbert Exenberger/Heinz Riedel: Militärschießplatz
Kagran, Wien 2003. Stolzlechner ist am Wiener Zen-
tralfriedhof bestattet worden.
4 Lg8Vr E253/44. Es handelt sich um den Akt des Ver-
fahrens gegen die Eltern David Holzers.
5 Manfred Messerschmitt/Fritz Wüllner: Die Wehr-
machtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zer-
störung einer Legende, Baden-Baden, 1987.
6 Aus dem Akt Lg8Vr E253/44 ist die genaue Straf-
bemessung nicht ersichtlich. An einer Stelle ist von 14
Jahren die Rede.
7 Fietje Ausländer: VomWehrmacht- zum Moorsoldaten.
Militärstrafgefangene in den Emslandlagern 1939 bis
1945, in: Hans Frese: Bremsklötze am Siegeswagen der
Nation, Bremen 1989, S. 165-193.
8 Willi Perk: Hölle im Moor. Zur Geschichte der Ems-
landlager 1933-1945, Frankfurt am Main, 1979.
9 Mit dieser „Empfangszeremonie“ verbinden viele ehe-
malige Häftlinge schreckliche Erinnerungen, vgl. die
Zitate in Ausländer, a.a.O., S. 179.
10 Funktionshäftlinge (Kapos) dienten der Lagerleitung als
„verlängerter Arm“. Sie waren in den Baracken für die
Aufrechterhaltung von „Ordnung und Sauberkeit“ zu-
ständig und erhielten dafür gewisse Begünstigungen.
11 Ausländer, a.a.O., S.186.
12 Primo Levi: Ist das ein Mensch? Ein autobiografischer
Bericht, München, 2002 (1958), S. 205.
13 Lg8Vr E253/44.
14 David Holzer: Dem Kraß-Vater einen Dank übers Grab.
Erinnerung an leidvolle Zeit mit großer Mitmensch-
lichkeit, in: Osttiroler Bote, Nr. 3, 1981, S. 5.
O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
70. Jahrgang – Nummer 6
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren
verantwortlich.
Anschrift des Autors dieser Nummer:
Mag. Peter Pirker, Lorenz-Bayer-Platz 17/13,
A-1170 Wien, E-Mail: peter-pirker@gmx.at
Manuskripte für die „Osttiroler Heimat-
blätter“ sind einzusenden an die Redaktion
des „Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Piz-
zinini, A-6176 Völs, Albertistraße 2a.
Nachwort von David Holzer
Am schmerzlichsten überrascht hat
mich dieser Bericht wohl selber. Erstmals
seit dem Krieg musste ich zur Kenntnis
nehmen, dass meine Eltern auch wegen
Mithilfe zur Fahnenflucht verurteilt wor-
den sind. Wir haben, um das jeweilige
Leid nicht zu vergrößern, überhaupt nicht
über die Kriegsvergangenheit gesprochen.
Ich sehe es als meine Pflicht, den im Be-
richt bereits genannten Persönlichkeiten
zu danken, die den Haftantritt meiner
Eltern mit ihrer menschlichen Klugheit bis
Kriegsende verhindern konnten. Das
waren zu dieser Zeit die Ortsbauernführer
von Schlaiten und Glanz, Florian Pedar-
nig und Josef Egartner, die ebenfalls
aus meiner engsten Heimat stammen-
den Funktionäre der Kreisbauernschaft
Lienz, der Frutschnig-Bauer und der Roh-
ner-Bauer Franz Wibmer aus Gwabl. Für
sie und für alle Osttiroler, die im Zweiten
Weltkrieg irgendwie menschliches Leid
verhindert haben, einen Dank über die
Gräber. Wie es scheint, weiß man in Wien
mehr als die Osttiroler selber.
David
Holzer
in den
späten
40er-
Jahren.
Repro:
Dina
Mari-
ner