Fodn Kals Nr. 84

Bunt gemischt Fodn Nr. 84 100 Kalser Gemeindezeitung 101 politik. verstehen. Die Europäische Union: Die Geschichte Die Europäische Union ist eine politische und wirtschaftliche Union mit 27 Mitglieds- staaten. Die Wurzeln der EU gehen auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als die europäischen Staats- und Regierungs- chefs nach Wegen gesucht haben, weitere Auseinandersetzungen und Kriege in Europa zu verhindern und die wirtschaft- liche Zusammenarbeit der europäischen Staaten zu erleichtern und fördern. Laut Werner Weidenfeld, einen renommierten Politikwissenschaftler, ist die Gründung beziehungsweise Entstehung der EU auf fünf Motive zurückzuführen. Erstens wünschen sich die europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den nationalistischen Verirrungen ein neues politisches Selbstver- ständnis. Demnach äußert sich ein Staatenbund, der auf Regeln basiert, als Alternative zur nationalistischen Herrschaft. Zweitens wird der Wunsch nach Frieden und Sicherheit in Europa verlautbart. Die Idee lautet, mit einer über- staatlichen Zusammenarbeit die Erweiterung der Sowjet-Union und des Kom- munismus einzudämmen. In diesem Kontext ist es unabdingbar, auf die Block- bildung zwischen Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg hinzuweisen, die zum Kalten Krieg zwischen den Großmächten Sowjet-Union und den USA ge- führt hat. Europa soll somit auch eine Friedensgemeinschaft darstellen. Drittens sehnt man sich nach Freiheit. Es geht darum, die kriegsbedingten nationalen Beschränkungen des Personen-, Güter- und Kapitalverkehrs zu überwinden und eine ungehinderte Bewegung von Personen, Meinungen, Informationen und Waren zu ermöglichen. Viertens setzt man sich zum Ziel, in Europa das Zeit- alter der wirtschaftlichen Stabilität und des Wohlstands zu erlangen. Intensi- vierte zwischenstaatliche Zusammenarbeit und ein gemeinsamer Markt sollen zur wirtschaftlichen Prosperität (=Wirtschaftswachstum, der Wohlstand mit sich bringt) führen. Fünftens erwarten sich die europäischen Staaten aus der Zu- sammenarbeit Macht. Nach dem ersten Weltkrieg verlieren die europäischen Staaten ihre dominierende Rolle in der internationalen Politik. Nach dem zwei- ten Weltkrieg kommt es zur Blockbildung und die Staaten Europas werden zu Nebendarstellern der internationalen Politik. Diese fünf Motive führen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Auf Initiative des französischen Außenministers Robert Schuman unterzeichnen die Vertreter Belgiens, Deutschlands, Frankreichs, Ita- liens, Luxemburgs und der Niederlande den Vertrag zur Gründung der EGKS am Bericht Stefan Huter ©fotostar - stock.adobe.com ©Julien Warnand/EPA/EFE Spitzenpoliter:innen der EU 18. April 1952. Die EGKS soll einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl – Ressourcen, die für die Herstel- lung von Waffen und militärisches Gerät wichtig sind, schaffen. Es geht unter anderem darum, die deutsch- französische Erbfeindschaft beizulegen. Diese Feind- schaft zwischen Deutschland und Frankreich geht auf das 19. Jahrhundert zurück, da die Kriege Ludwig des 14., Revolutionskriege, der deutsch-französische Krieg 1870/71 sowie der erste und zweite Weltkrieg zeigen, dass Auseinandersetzungen zwischen diesen Staaten nicht friedlich gelöst werden können. Die Gründung der EGKS hat somit für Deutschland und Frankreich besonders hohen Stellenwert, da es zur friedlichen Zu- sammenarbeit gekommen ist – diese wurde im Élysée- Vertrag (Freundschaftsvertrag) 1962 besiegelt. Im selben Jahr, sprich 1952, kommt es neben der EGKS zur Gründung der Europäischen Verteidigungs- gemeinschaft (EVG). Wichtig ist zudem, wie sich die EGKS organisiert: Laut Vertrag der EGKS gibt es die „Hohe Behörde“ mit Exekutivrechte (ähnlich wie die Regierung in Österreich); eine gemeinsame Ver- sammlung mit Qualität eines Diskussionsgremiums mit eingeschränkten Kontrollrechten (ähnlich wie das Parlament in Österreich von der Idee); politische Richtlinien- und Legislativrechte liegen beim „Be- sonderen Ministerrat“ (Eigenheit der EGKS und EU im Vergleich zu anderen parlamentarischen Systemen). Zudem wacht ein Gerichtshof über die Vertragsaus- legung. Mit den Römischen Verträgen 1957 werden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) gegründet. Ziel dieser Gemeinschaften war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes mit freiem Waren-, Dienstleis- tungs-, Kapital- und Personenverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten. 1965 werden die EGKS, EWG und Euratom in der Europäischen Gemeinschaft (EG) zu- sammengeführt. Die EG vergrößert sich und nimmt nach und nach wei- tere europäische Länder auf. Die Einheitliche Europäi- sche Akte von 1986 zielt darauf ab, durch die Besei- tigung von Handelshemmnissen einen gemeinsamen europäischen Markt zu errichten. Mit der Schaffung des Binnenmarktes und der Ausweitung ihrer Politikberei- che über die Wirtschaft hinaus nimmt die EU allmäh- lich Gestalt an. Mit dem 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht wird die Europäische Union als über- greifende Einheit gegründet, die wirtschaftliche, politi- sche und soziale Aspekte umfasst. Der Vertrag schafft den Rahmen für eine gemeinsame Währung, den Euro, der 1999 eingeführt wurde. Die EU erweitert sich wiederum und nimmt nach dem Zerfall der Sowjet-Union mehrere mittel- und osteu- ropäische Länder auf. Der Vertrag von Lissabon, der 2009 ratifiziert worden ist, zielt darauf ab, die Entschei- dungsprozesse zu straffen und die Rolle der EU auf der Weltbühne zu stärken. Das Europäische Parlament bekommt weitere Kompetenzen, es wird die Rolle des Präsidenten des Europäischen Rates eingeführt und eine verbesserte Zusammenarbeit in verschiedenen Politikbereichen angestrebt. Interessant ist, dass die Europäische Union über kei- ne Verfassung verfügt, die Verhandlungen dazu sind mehrfach gescheitert. Somit basiert das Regelwerk der EU auf das Primärrecht des Vertrags über die Europäi- sche Union (EUV) und des Vertrags der Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Beispielsweise regelt beziehungsweise erläutert Artikel 2 EUV die Werte der EU: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Per- sonen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Tole- ranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Die Aufnahme eines Staates regelt Artikel 49 EUV: (1) Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genann- ten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente werden über diesen Antrag unterrichtet. Der antrag- stellende Staat richtet seinen Antrag an den Rat; dieser beschließt einstimmig nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, das mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt. Die vom Europäischen Rat vereinbarten Kriterien (=Kopen- hagen-Kriterien) werden berücksichtigt. (2) Die Aufnahmebedingungen und die durch eine Auf- nahme erforderlich werdenden Anpassungen der Ver- träge, auf denen die Union beruht, werden durch ein Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat geregelt. Das Abkommen be- darf der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Zudemmuss ein Staat, umder EU beitreten zu können, die Kopenhagen-Kriterien erfüllen: (1) „Politisches Kriterium“: Institutionelle Stabilität, de- mokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten. (2) „Wirtschaftliches Kriterium“: Funktionsfähige Markt- wirtschaft, Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck des EU- Binnenmarktes standzuhalten. (3) Das „Acquis-Kriterium“: Übernahme des gemein- schaftlichen Rechtssystems, des „gemeinschaftli- chen Besitzstandes“ (EU-Recht steht über nationalem Recht). Abschließend sei erwähnt, dass man die Erweiterung der EU durch die Aufnahme weiterer Länder und die enge Zusammenarbeit in den politischen, wirtschaft- lichen und militärischen Aspekten als Europäische In- tegration bezeichnet. In der nächsten Ausgabe politik. verstehen. werden die Institutionen der EU genauer und kritisch beleuchtet.

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