Dorfzeitung Nr. 116

14 Dölsacher Dorfzeitung Bei Beginn der Lektüre dieses Buches stellt man sich am ehesten auf Kurzgeschichten ein. In der Tat hat man es beim ersten Kapitel mit einer Kurzgeschichte zu tun, die mit dem Titel „Tamara – das Zigeunermädchen“ bereits 2019 erschienen ist. Auch die darauffolgenden 56 Kapitel haben den selbstständigen Charakter von Kurzgeschichten jeweils nicht ganz verloren, auch wenn sie in einer intensiv bewegten Ich-Erzählung miteinander verknüpft sind. Das damals zwölfjährige Mädchen Tamara schildert zu- nächst ihre „Heimkehr“ als Bettlerin von einer nicht ganz ferngelegenen Roma-Siedlung zu ihrer in einem Bauernhof bei Dölsach verheirateten leiblichen Mutter. Diese hatte sie als lediges Kleinkind, das sie sich nicht getraut hatte, ins Dorf zu bringen,bei den Roma abgegeben. Dort war sie bis- her aufgewachsen. Jetzt beginnt die von ihrer eigentlichen Mutter künftig sehr intensiv betreute „Heimkehrerin“ ihr weiteres Leben bis in letzte Einzelheiten zu beschreiben. „Ich schreibe bei Mondlicht von Baumstrunk zu Baumstrunk mein Leben auf.“ (S.17) In den kommenden etwa anderthalb Jahren geht es unter an derem um ihr Leben in der Schule, ihre helfende Arbeit im und um den Bauernhof, zum Teil ge- meinsam mit dem dort auch vorgefundenen Bruder Paul. Die dargestellten Handlungen und Geschehnisse ereignen sich zumeist im und um den Ort Dölsach im Osttiroler Drautal mit Aussicht auf den „Hochstadel“ in den Lienzer Dolomiten. Konkretere Ereignisse finden großteils in un- mittelbarer Umgebung statt, etwa in der „Wugge“ (einem Flurteil von Dölsach), auf dem „Mittleren Albl“ und dem „obersten Almteil“ des nahen Berges „Ederplan“, vor allem aber auch im „Frühauftal“, aus dem der von den Kindern geliebte „Frühaufbach“ in die Drau fließt. Durchgängige Motive des Romans sind auch die von Dorf- bewohnern häufig geäußerten, zumTeil direkt rassistischen Vorbehalte gegen Tamaras etwas dunkleres Aussehen und ihr nunmehriges Leben in dieser Osttiroler Gemeinde. Von ihren drei Roma-Brüdern und auch von ihren Mitschüler- Innen bekommt sie das zu spüren. – Gegen Ende des Ro- mans ist sie es, die ihren Roma-Vater in einem Gebüsch tot auffindet und von ihm Abschied nehmen muss. Selten findet man in diesen Arealen Phänomene so an- schaulich und liebevoll bis ins Greifbar-Einzelne und direkt Ansprechende geschildert wie hier: in der Landschaft For- men von Berg und Tal, Gesteinen und Gewässern; in der lebenden Natur: Wald und Wiese, Pflanzen, Bäume, Tiere. Wechselndes Licht lässt Formen wechseln und Farben wirken. Zum Beispiel werden – so die Autorin – „Kirschblüten mit Worten gezeichnet“. Mit dieser Art des Erzählens entstehen vor uns Welten: Sprach-Welten, Bild-Welten. Und diese wirken – wie vieles andere von ihr Dargestellte – auf die Wahrnehmung und das Innenleben von uns Lesenden. Maßgeblich für den Charakter dieses Romans ist seine kon- sequent durchgezogene „Doppelsprachigkeit“. Alle Figuren aus der Gegend, außer einigen Beamten, sprechen in Ost- tiroler Mundart. In diese ist alle im Roman formulierte di- rekte Rede schriftlich umgesetzt. Für die Lesenden, die die- se Mundart nicht beherrschen und nicht näher kennen, ist es unvermeidlich, die überaus zahlreichen Dialektwörter in dem im Anhang befindlichen alphabetischen Verzeich- nis nachzuschlagen. Dies macht es auch möglich, den ei- genartigen Klang vieler Wörter und damit insgesamt die besondere Tonart der hier wiedergegebenen Sprechweise nachzuvollziehen. Der Wechsel zwischen hochsprachli- cher und mundartlicher Tonart belebt insgesamt den „Ton“ der gesamten Erzählung und erzeugt damit gemeinsam mit den Bildwelten auch eine „Klangwelt“. Damit steht die Erzählung eindeutig in überregionaler und internationaler künstlerischer Tradition: Der Ordens- geistliche Maurus Lindemayr (1723–1783) gilt als einer der ersten anspruchsvollen Mundartdichter Oberösterreichs. – Von besonderer Bedeutung als Mundart-Schriftsteller ist auch der dänische Autor Steen Steensen Blicher (1782– 1848) vor allemmit seiner Erzählung „E Bindstouw“ („Eine Strickstube“) in jütländischer Mundart. – In Vorarlberg hat der Bregenzer Arzt Caspar Hagen (1820–1885) Dichtungen in alemannischer Mundart 1872 erstmals gesammelt her- ausgegeben. – Im zwanzigsten Jahrhundert hat in Öster- reich vor allemH. C. Artmann – beginnend mit seinem 1958 erschienenen Gedichtband „med ana schwoazzn dintn“ – den Umgang mit Mundart-Literatur systematisch geprägt. Abschließend ein von mir aus dem Dänischen übertragenes Gedicht des hier erwähnten Autors Steen Steensen Blicher – nicht in Mundart verfasst, aber meiner Ansicht nach auf Gertraud Patterers Sprachkunst beziehbar: GERTRAUD PATTERER Foto: Dina Mariner Lienz

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