Achse Nr. 266

Seite 24 03/2023 Das Mikrobiom - ein neues Organ In den allermeisten Fällen wird mittlerweile unter dem Begriff Mikrobiom die Gesamtheit aller Bakterien, insbesondere jener in unserem Darm, verstanden, da den Bakterien hier eine herausragende Bedeutung zukommt. Allerdings ist diese Sichtweise nicht ganz richtig beziehungsweise nicht ganz vollständig, denn wir finden im Zusammenspiel mit den vielfältigen Bakterien natürlich auch noch andere Organismen wie Archaeen, Pilze, Einzeller und Viren in unserem Darm. Unser Körper besteht etwa aus 30 Billionen Körperzellen und ca. 50 Billionen Bakterien und ca. an die 100 Billionen Viren. Unvorstellbare Zahlen. Die meisten davon sind uns wohlge- sonnen und fühlen sich in der warmen, sauerstoffarmen Umgebung unseres Darmes mit der täglichen Zufuhr von reichlich Nährstoffen normalerweise recht wohl. Zusammen wiegen diese Darmbakterien neuesten Schätzungen zufolge bis zu 0,2 Kilo. Die Bedeutung unseres Mikrobioms ist aber vor allem daran zu erkennen, dass unsere Körperzellen jeweils lediglich etwa 23 Tausend Gene besitzen, wir aber in unserem Mikrobiom zwischen zwei Millionen und möglicherweise sogar 20 Millionen bakterielle Gene mit uns tragen. Das bedeutet, dass wir zumindest aus genetischer Sicht 99 Prozent Mikrobe sind! Auch dass die Gesamtheit der Mikroben in unserem Körper mittlerweile als eigenes Organ oder Organsystem bezeichnet wird, zeigt, welchen Stellenwert unsere mikrobiellen Begleiter in der biomedizinischen Forschung heute haben. Die hervorragende Bedeutung der Mikroorganismen erklärt sich durch die Entstehung von Leben auf unserer Erde. Die Bakterien waren die ersten und Wegbereiter für die weitere Entwicklung mehrzelliger Organismen. Die ersten 1,5 Milli- arden Jahre entwickelten sich die unterschiedlichen Bakterien- arten und bereiteten den Boden und die ganze Ökosphäre auf "unser Kommen" vor. Also - ohne Bakterien kein Leben - auf der Erde und in jedem sich entwickelnden mehrzelligen Lebe- wesen bis zu uns Menschen. Diese enge Beziehung zu den Mikroorganismen, allen voran den Bakterien, macht mehrzellige komplexe Lebewesen wie uns zu sogenannten Holobionten. Lebewesen wie Pflanzen oder Tiere können nicht isoliert, also ohne diese Mikroorga- nismen betrachtet werden. Sie wären ohne Mikroben nicht lebensfähig. Der Terminus "Holobiont", der so viel wie "Gesamtlebewesen" bedeutet, wurde maßgeblich von der ame- rikanischen Biologin Lynn Margulis geprägt, um die evolutio- näre und physiologische Bedeutung dieser engen Beziehung zwischen einem Wirt und seinen Mikroben zu unterstreichen. Zum Beispiel ist auch die Erde ein Lebewesen, ein Holobiont und wir sind der Teil der Mikroben, der die Erde krank macht, momentan zumindest. Hoffentlich stirbt sie nicht auch noch daran an der "Menschitis". Die Medizin hat über mehr als hundert Jahre Bakterien und andere Mikroorganismen aus historisch verständlichen Grün- den stets als Krankheitserreger gesehen, die es galt durch geeignete Maßnahmen wie Desinfektion, Sterilisation oder Antibiotika zu bekämpfen bzw. zu vernichten. Das ist kein Wunder, sind doch die wesentlichsten Entdeckungen in der medizinischen Mikrobiologie mit der Beschreibung von Krankheiten und der Identifizierung ihrer Erreger verbunden gewesen. Heute wissen wir, dass diese überaus negativen Eigenschaften nur auf einen äußerst geringen Prozentsatz aller bisher bekannten Bakterienarten zutreffen. Der Großteil von ihnen verhält sich uns gegenüber entweder neutral oder ist, in und auf unserem Körper, für die Erhaltung unserer Gesundheit von großer Bedeutung. Denn Billionen von Mikroben leben in und auf uns, manchmal in Konflikt, oft in Symbiose, aber immer in Wechselwirkung mit unserem Körper. Je nach Aufenthaltsort unserer Mikroben spricht man von Hautmikrobiom, verantwortlich für den individuellen Geruch und die Schutzfunktion einer intakten Hautbarriere. Die Zusammensetzung der Mikrobiota unserer Haut ist dermaßen individuell, dass die Gerichtsmedizin einen mikrobiellen Fin- gerabdruck für eine mögliche kriminalistische Personenidenti- fizierung erwägt. Auch die Atemwege haben ihre eigenen Mikroben, die eine Ansiedlung von pathogenen Keimen ver- hindern. Denn wo bereits Mikroben "wohnen" ist kein Platz mehr für neue Keime. Unser Verdauungstrakt, beginnend mit der vorderen Zahnrei- he bis zum Anus, ist von unzähligen Mikroorganismen besie- delt. Durch den vor allem im Dickdarm vorherrschenden, extrem niederen Sauerstoffgehalt fühlen sich hier sogenannte anaerobe Keime wie Bacteroides und Bifidobakterien besonders wohl. Bis zu 60 Prozent der Trockenmasse des Stuhls besteht aus lebenden oder abgestorbenen Bakterien. Aus Sicht der Bakterien ist unser Darm ein optimales Habitat: reichlich anfallende Nährstoffe, eine optimal niedere Sauer- stoffkonzentration, eine warm-feuchte Umgebung und ein im Idealfall gut funktionierendes Kanalsystem. Umgekehrt berei- chern sie das Lebensspektrum ihres Wirts enorm, denn sie beeinflussen uns vom Immunsystem bis zu unserem Verhal- ten. Wir sind mit ihnen gemeinsam ein wunderbar komplexer Holobiont. Einige Stoffwechselprodukte von Bakterien dienen der "Kom- munikation" mit ihrem Wirt. So regulieren zum Beispiel die bakteriell produzierten kurzkettigen Fettsäuren die Fettspei- cherung, Hunger und Sättigungshormone sowie die Verzehr- vorlieben ihres Wirts, was wiederum die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflusst und somit langfristig Folgen für Gesundheit und Verhalten haben kann. Bakterielle Stoffwech- selprodukte entfalten ihre Wirkung nicht nur im Darm, son- dern gelangen über die Blutbahn in alle nur erdenklichen Ziel- organe unseres Körpers. Dabei sind bis zu 30 Prozent der Moleküle in unserem Blut bakterieller Herkunft. Da steht noch eine immense Forschungsarbeit für die Zukunft an. Wir sind Die Seite für die Gesundheit mit Doktor Adelbert Bachlechner Fortsetzung nächste Seite

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