Achse Nr. 263

Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Freitag, 8. Juli 2022, die Son- ne schickt ihre letzten milden Strahlen über die Berge, in den Tälern setzt die Abend- dämmerung ein, der Tag neigt sich. In dieser Stunde öffnet Anna Wurzer, unsere Mame, ein letztes Mal die Augen, schließt sie, macht einen letz- ten Atemzug und übergibt ihre Seele dem Schöpfer. In dieser Zeit ihres Dahinscheidens hatten wir noch Gelegenheit, uns von ihr in Würde und Dankbarkeit zu verabschieden. Tröstlich, was uns der Heilige Aloisius zu sagen hat: „Ich ster- be, aber meine Liebe zu euch stirbt nicht. Ich werde euch im Himmel lieben, wie ich euch auf Erden geliebt habe.“ Anna Wurzer wurde am 11. März 1927 beim Unterweger in Bichl geboren. Ihre Mutter Filomena hatte in zweiter Ehe Josef Mairer vom Platzer in Vergein geheiratet. Aus dieser Verbindung entstammten drei Kinder: Adolf, bereits verstor- ben, unsere Mutter Anna und Konrad. Mit den Brüdern und sechs Halbgeschwistern aus erster Ehe der Mutter verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend. Im Jahre 1947, mit 20 Jahren also, zog sie mit ihrem Vater und der bereits kränklichen Mut- ter ins Häuslergut, oberhalb des Heimathauses. Hier pflegte sie ihre erkrankte Mutter Filomena ein halbes Jahr, ehe sie ver- starb. Gemeinsam mit ihrem Vater bewirtschaftete sie das Häusleranwesen und arbeitete nebenbei als Tagwerkerin auf verschiedenen Höfen der Umgebung. Im November des Jahres 1951 heiratete sie Josef Wurzer, Bau- er zu Hiegerlinder in Kosten. Hier war sie Bäuerin mit Leib und Seele, sorgte sich um Haus und Hof. Der Ehe entstammen 8 Kinder, 4 Söhne und vier Töchter. Sie ermöglichte gemein- sam mit unserem Tate allen Kindern eine gute Ausbildung, förderte unser Fortkommen und begleitete unseren Lebens- weg. Ihre Nachkommenschaft vergrößerte sich durch die Ver- heiratung ihrer Kinder, letztendlich umfasst sie: 8 Kinder, 18 Enkel, 11 Urenkel und eine Ururenkelin. Was hier so nüchtern und sachlich berichtet wird, gibt nicht das wieder, was ein menschliches Dasein ausmacht. Und es beschreibt nicht den Menschen. Deshalb seien einige Wesens- züge und Blickpunkte aus dem reichen und 95 Jahre dauern- den Leben unserer Mame beleuchtet. Da ist zunächst von ihren acht Jahren Volksschule zu berich- ten. Man erzählte, sie sei ein äußerst wissbegieriges, geschei- tes Mädchen gewesen. Nur hatte die Schule zu der Zeit keinen großen Stellenwert, wurden doch Kinder und Jugendliche in der Landwirtschaft gebraucht. Anna, zum Beispiel, zum Scha- fe hüten, was der Lehrer aber nicht gern sah. Er fragte den Vater, ob er dafür nicht jemanden Dümmeren hätte. Mame wäre gern Lehrerin geworden: Immerhin ergriffen zwei Söhne und fünf Enkel diesen Beruf. Ein Weiteres: Mame liebte die Musik , vor allem die Kirchen- musik. Sie sang zunächst im Kirchenchor Assling und nach ihrer Heirat im Kirchenchor St. Justina. Sie erfreute sich an großen Orchestermessen und an manchen Konzertbesuchen. Mame war eine fromme Christin. Sie besuchte Gottesdien- ste, sooft sich die Möglichkeit bot, betete den täglichen Rosen- kranz und betreute das Linder Kirchl. Sie sorgte dort für Blu- menschmuck, hielt Maiandachten und läutete täglich die Mor- gen-, Mittag- und Abendglocke. Immer zu fixen Zeiten und auch freitags um drei Uhr am Nachmittag. Ich habe ausgerech- net, dass sie in ihrem langen Leben ungefähr 160 Tage lang ununterbrochen geläutet hat. Ihr Christsein äußerte sich auch in vielen Wallfahrten: nach Maria Zell, Altötting und vor allem nach Maria Luggau, wo sie auch regelmäßig an der nächtlichen Anbetung teilnahm. Viermal war sie in Lourdes. Einmal mit dem Flugzeug, es war ihre erste und einzige Flug- reise. Aus dem Glauben, aus dem Gebet und durch die Wall- fahrten schöpfte sie ihre Kraft und ihre Stärke, den Alltag zu meistern. Diese Kraft half ihr auch Schicksalsschläge zu überwinden: Brennenden Schmerz musste sie erfahren durch den frühen Tod ihres Schwiegersohnes Ernst (1991), das Dahinscheiden ihres Gatten, unseres Vaters, 2007, ebenso durch den jähen Tod ihrer Schwiegertochter und Jungbäuerin Andrea im Jahre 2015. „Unser tägliches Brot gib uns heute“ . Erzählen muss man auch von der harten Arbeit in Haus und Hof. Karg ist der Boden in der Linde, das sagen schon die Flurnamen: Lechnro- ane, Loch, Kofl, Leite, hinterm Bichl. Als Mame in die Linde kam, wurde noch Getreide angebaut, Roggen, Weizen, Gerste, Hafer, auch Kartoffeln, Rüben. Ein Garten voll Gemüse.Das Getreide wurde gemahlen und verwertet. Das Linderbrot von Mame ist nach wie vor eine Kostbarkeit. Vieles war einfach Handarbeit, es gab nur eine Pferdestärke, die die Arbeit erleichterte. Neben all der Sorge um Vieh und Stall, war es die Kinder- schar, die alle Kraft erforderte. Mame nähte Kleidung, wenn es sein musste, auch eine Keilhose, weil sie halt gerade modern war. Auch wenn sie am Tag darauf schon wieder zu flicken war. Mit unendlicher Geduld erfüllte sie die Wünsche ihrer Kinder - unsere Wünsche. Durch unsere Mame war unser Haus auch eine Pflegeanstalt , ich sehe das heute so. Sie kümmerte sich um ihre Schwiegerel- tern im Alter, pflegte die Schwiegermutter, unsere Oma, fünf Jahre hindurch, sie pflegte unseren Onkel Friedl, der in der Zeit seiner Pension in die Linde zurückkehrte. Für uns war das eine Selbstverständlichkeit. Den Wert dieser Mühe erkannten wir erst später, das Leben in einer Großfamilie, dort aufzu- wachsen und dadurch für das Leben sozial gestärkt zu werden. Tischgemeinschaft: Die Tischgemeinschaft ist in der Bibel ein Symbol. Symbol für das Mahl von Gleichgesinnten, für das Teilen, für Freundschaft. Die Tischgemeinschaft in der Linde war und ist erlebte Gesellschaft. Sie findet vor allem nach getaner Arbeit am Feld im großen Kreise der Helfer statt, Seite 20 08/2022 Fortsetzung nächste Seite Gedenken an Anna Wurzer, Hiegerlindermame 1927-2022

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