GZ_Virgen_2021_08

Virger Zeitung Erzählungen sind durchaus ein ernst zu nehmender Teil der Geschichtsschreibung. Freilich können Gedächtnislücken oder verfälschte Erinnerungen bei ein- zelnen Erzählern*innen den Wahrheitsgehalt beeinträchtigen; wenn jedoch mehrere Personen über dasselbe Thema sprechen, wird diese „Unschärfe“ kaum auf- treten. Prof. Louis Oberwalder hat ein- mal angeregt, ältere Leute über ihre Kindheit und Jugendzeit zu befragen. Diesem Vorschlag fol- gend, lud die Bücherei in den Jah- ren 2003 und 2004 zu mehreren zwanglosen Plauderstündchen bei Kaffee und Kuchen ein. Was dabei an „altem Wissen“ zutage kam, haben Alexandra Altstätter und Magda Bacher schriftlich fest- gehalten. Hier eine ihrer Aufzeich- nungen. Otfried Pawlin Von sieben Befragten, die in den 1920er-Jahren zur Welt kamen, sind nur vier zu Hause aufgewachsen, die anderen wurden „ausgestiftet“. Dafür gab es mehrerer Gründe – weil die Mutter eine Magd war und das Kind auf dem Hof nicht gedul- det wurde, oder junge Eltern ver- suchten auswärts eine Existenz zu gründen, um später, wenn es ihnen besser ginge, die Kinder nachzuho- len. Auch Witwen konnten ihren Nachwuchs oft nicht mehr versor- gen, und lieber wie „dahungan loss‘n“ haben diese Mütter eines oder mehrere von der großen Kin- derschar schweren Herzens zu bes- ser gestellten Verwandten oder in fremde Hände gegeben. Den bald 80-Jährigen trieb es beim Erzählen von der Trennung heute noch die Tränen in die Augen! Wo sie auch hinkamen, in keinem Haus gab es Doch aus den Erzählungen hörte man heraus, dass die Arbeit immer im Vordergrund stand. Eine ärztliche Versorgung der Kin- der bei Verbrennungen oder Unfäl- len war undenkbar, niemand hatte Geld, um den „Nestl“ (damals der Sprengelarzt) zu bezahlen. So wurde mit Hausmitteln herumkuriert, viel- leicht auch der „Jaggla Dokta“ zu Hilfe gerufen – der verstand ein wenig von Tiermedizin, und was dem Vieh geholfen hat, musste wohl auch für die Leute gut sein. Eine Frau erzählte, dass sie nach dem Ausschulen ihre Magenbe- handlung beim Dr. Winkler als Hausmädchen abgedient hat. Natürlich haben die Kinder auch früher Fragen nach ihrer Herkunft gestellt. Ja, und woher kamen nun die „Poppelen“? Allesamt aus „Pfar- rers Truch‘n“, manche waren so im magda Bacher: kindheit in Virgen Lang, lang ist‘s her – ernst und heiter frühere Begebenheiten Überfluss, hungern musste jedoch zu dieser Zeit in Virgen auch nie- mand. Oft hatten sie schon in sehr jungem Alter schwere Arbeiten zu erledigen. Was am schmerzlichsten empfunden wurde, war aber wohl die fehlende Mutterliebe und das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören, also kein „Unsriger“ zu sein. Die leibliche Mutter sahen sie oft jahre- lang nicht. Die zur Familie gehören- den Kinder mussten auch schon so bald wie möglich in Haus und Hof mithelfen, zum Beispiel „Hiet‘n“ oder „Kinds‘n“. Spielsachen gab es so gut wie keine, jedoch eine gehö- rige Portion Fantasie – damit ver- wandelten sich die „Zischg‘n“ in Kühe, Ziegen und Schafe, für die aus Rindenstücken und Moos ein Stall gebaut wurden. „Vasteckele bosln“ war sehr beliebt, gab es doch unzählige Winkel zum Verkriechen. Sie wussten viel zu erzählen! Von links: Johanna ruggenthaler, vlg. ober- dorfer; Sophie Berger, vlg. haberer; Josefa inderster, vlg. nell. 46 Dorfleben – Menschen

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