GZ_Oberlienz_2021_05

22 Oberlienz erlesen Oberlienz erlesen 23 Oberlienz Geschichtliches Die bewegte Geschichte einer kleinen Sterbeglocke Meine Geschichte Heuer im Jahr 2021 werde ich 252 Jahre alt, hatte im Jahr 2019 bereits ein viertel Jahrtausend hinter mir und schaue auf mein derzeitiges Dasein zurück. Im Jahr 1769 goss mich der große Meister Franz Grassmayr, damals in Brixen ansäs- sig, im Auftrag der Heinfelser für die ihre Burg Heinfels. Ich wiege wie man damals sagte 3 Zentner und 60 Pfund. Auf mir wurde auch die Inschrift gebrannt: Nos eme prolepia Benedicat virgo Maria. Man gab mir den Namen „das Lauren- ziusglöcklein“. 41 Jahre durfte ich vom Schloss Heinfels herunterschauen und den wunderschönen Ausblick ins Pustertal, ins Villgratental und ins Gailtal genießen. Im Jahr 1796 hörte ich Böllerschüsse vom ca. 28 km entfernten Kreuzberg im Pustertal und der weiter entfernten Chrysanther- schanze, unterhalb von Nikolsdorf, als erstmals die Franzosen versuchten Tirol zu erobern. Tirol 1809 Anfang August sah ich viele Tiroler ab- wärts zur Lienzer Klause mit Sensen, Dreschflegeln und Gabeln stürmen - was war da für eine Aufruhr? Ich hörte nun schon viel näher und lauter die Kanonen und Gewehrschüsse von der Lienzer Klau- se herauf. Am 8. August sah ich viel Feuer über der Lienzer Gegend und tagelang nur Rauch. Es hieß, ein französischer Ge- neral Ruska mit seinen Streitkräften, vor- wiegend italienischen Kompanien, hätte 160 Häuser um Lienz herum angezündet, davon betroffen auch die Kirche in Ober- lienz. Diese Franzosen und Italiener wollte ich mir anschauen - sie kamen jedoch nicht durch das Pustertal herauf, sondern zogen wieder über das Drautal ab. Die Leute erzählten in Leisach seien 46 Häuser abgebrannt, vorwiegend Bauernhöfe, mit einem geschätzten Schaden von 106.054,-- Gulden (was heute mind. 27.600.000,-- Euro ausmachen würde) und in den Gemeinden Oberlienz und Oberdrum sogar 48 Bauernhöfe und Ge- bäude, darunter der Widum und die Kir- che Oberlienz, mit einem gerichtlich ge- schätzten Schaden von 132.604 Gulden (was heute ca. 32.200.000,-- Euro für den Wiederaufbau ausmachen würde). Für den Wiederaufbau kalkuliert man heute für ein Stubenhaus samt Futterhaus 600.000,-- Euro, sowie den Widum mit 400.000,-- und die Kirche Oberlienz mit nur 3.000.000,-- . Diese drei Gemeinden hätte es am ärgsten getroffen - so erzähl- ten unter mir die Leute. 1810 Am 1. Mai kam dann ein Pferdefuhrwerk mit einem Oberlienzer, dem Kirchenprobst Johann Jakober, zu mir. Die Nachbarsleute vom Schloss Heinfels wollten mich aber nicht fortlassen. Es nützte nichts, die (bay- risch) illyrische Regierung hatte das ange- ordnet und gegen eine Gebühr von 50 Gulden wurde ich nun an Oberlienz ver- liehen. So musste mich dieser Mann – Gehilfen hatte er keinen dabei – mit einem Strick vom Turm ganz alleine herunterlassen und dabei hat er mich gegen die Außenmauer gestoßen und verletzt, wo ich heute noch an mir eine kleine Scharte sehe. Der Weg nach Oberlienz war beschwerlich, ich wurde auf dem Leiterwagen mit Holzrä- dern und schmalem furchenreichen Schot- ter- und Waldwegen ganz schön durch- gerüttelt. Wie wunderbar weich fahren die Leute dagegen heute auf der breiten as- phaltierten Bundesstraße. Durch Leisach sah ich erstmals dieses Greuel der Verwüstung. Nachdem wir Oberlienz erreicht hatten, sah ich erst wie hart es auch diese Leute erwischt hatte und wie arm diese sein mussten. Aber sie bauten fleißig. Einige Häuser waren schon wieder fertiggestellt, diesmal aber mit Steinen, vorher waren sie großteils mit Holz gebaut. Ich wurde ganz allein in ein provisorisches Glockengehäuse an der Nordostecke des Friedhofs aufgestellt. Meinen wunderschönen Klang konnten die Leute noch nicht weit hören. Die Kirch- leute sagten aber: „über 8 Monate haben wir nun keine Glocke mehr gehört, die zwei alten Glocken sind ja geschmolzen, kein Wunder bei dieser Feuersbrunst und 8 Tage lang stieg ja der Rauch noch in die Höhe. Aber das geschmolzene Metall wurde ja zum Glockengießer Grassmayr nach Brixen gebracht, der wird schon wieder eine wunderschöne neue Glocke gießen“. Wenig später kam diese Glocke tatsächlich zu mir in den Friedhof. Ich be- zeichnete sie als große Schwester. Sie wog 18 Zentner 70 Pfund. In dieser Zeit hatten wir viel Lärm bei der Kirche auszuhalten. Die Einwohner sägten Bäume, danach Balken u Bretter, hackten diese zurecht und hämmerten, da ein Doppelzwiebelturm ähnlich wie in Ober- drum nun aufgebaut wurde, aber das dauerte natürlich. Es musste ja auch das Glockenhaus neu gezimmert werden. 1815 Anfang des Jahres gingen die Verantwort- lichen daran, zwei neue Glocken zu be- stellen. Sie kauften in Lienz 1440 Pfund Glockenmetall und schickten es durch Herrn Forcher von Sillian nach Brixen. Die Firma Grassmayr goss daraus zwei Glo- cken, die eine mit 1067 Pfund, die andere mit 210 Pfund. Der Glockenaufbau in der zweiten Adventwoche erforderte rund 20 Zimmererschichten. Da meine große Schwester und ich nach fünf Jahren endlich mit unseren zwei Neu- en in den Glockenturm durften und wieder das erste Mal vom Turme heraberklangen, so lässt es sich wohl schwer erfassen, welch fröhliche Weihnachten es in diesem Jahre für die Oberlienzer gewesen sind. 1835 Am 27. Juli 1835 suchte Pfarrer Plazoller um die Nachlassung der Schuld für mich an und bot 50 fl. an - die Heinfelser soll- ten damit abgegolten werden. Die hohe Landesstelle entsprach dieser Bitte am 21. Jänner 1836. 1862 Am 20. August 1862 wurden die neuen Glocken in Wilten gegossen und vom damaligen Titl. Hf. Prälaten alldort ge- weiht. Am 24. September 1862 wurden die Glocken vom Fuhrmann Josef Baum- gartner in Innichen auf das Feierlichste in Oberlienz eingeführt. Beim Einzug zog man dem Glockenfuhrwerk bis auf die Straße (Pöllander Stöckl) entgegen. Die Priester in Chorröcken, die Gemeinden mit Schützen, Musik, klingenden Fahnen und Pöllerknall und eine große Volksmenge von Nah und Fern begleiteten die mit Blumen gezierten Glocken an Ort und Stelle, wo Baumeister Hofer zwei der Glocken in den Turm selbst aufzog. Ich durfte dabei vom Turme aus zusehen. 1864 Der Jubel über das schöne neue Geläute sollte aber nur zu bald in ebenso große Trauer verwandelt werden. Schon im Jahre 1863 bemerkte man, dass die schon frü- her vorhandenen Sprünge am Turme, die von einer gerichtlichen Kommission vor Anschaffung der Glocken für ungefährlich erkannt worden waren, sich bedeutend erweitert hatten und eine im ersten Stock- werk hervortretende Bauchung im Mauer- werk sich allmählich vergrößerte. Man befürchtete ein Unglück und wollte laut Protokoll der Kirchenrechnung vom 7. Juni 1864 Vorkehrungen treffen. Zu spät! Am 9. Juni 1864 trat die schreckliche Ka- tastrophe ein - der Messner hatte in der Früh vergeblich die Uhr, welche doch neu war, in Gang zu bringen versucht und konnte sich die an diesem Morgen einge- tretene Störung in der Zeigerleitung nicht erklären. Es war halb sieben, als auf ein- mal der Turm zu wanken begann. Er brach im nächsten Moment in sich zusammen und in nur einer halben Minute war alles eine Ruine! Das Unglück war ungeheuer- lich und nicht zu begreifen, der Krach weithin hörbar. Wer im Freien oder auf den Bergen war, wandte sich dem Krache zu und man konnte nur mehr eine gewalti- ge Staubmasse erblicken, wo sonst der Turm gestanden war. Im Nu war alles, © Ernst Zeiner © Chronik Oberlienz

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