GZ_Kals_2021_03

Fodn Nr. 77 86 Bunt gemischt Kalser Gemeindezeitung 87 politik. verstehen. Bericht Stefan Huter Sei es in den Nachrichten, in der Tages- zeitung oder in den sozialen Medien, jede und jeder von uns wird mit Informationen überhäuft. Dabei verliert man schnell den Überblick und man fragt sich: Was ist eigentlich der Bundesrat? Welche Kompe- tenzen besitzt der Bundespräsident oder wie läuft der Gesetzgebungsprozess ab? Mein Name ist Stefan Huter, ich studiere Politik- wissenschaft an der Universität Innsbruck und mit der Ausgabe „politik. verstehen.“ möchte ich unparteiisch die Grundzüge des österreichischen politischen Systems der Fodn-Leserschaft näherbringen. Das Ziel ist also, die wichtigen Institutionen und politi- schen Prozesse zu erklären, dabei werde ich nicht Partei ergreifen und unvoreingenom- men bleiben. In jeder Fodn-Ausgabe wird ein neues Feld der österreichischen Politik vorgestellt. Ich möchte mit einer allgemeinen Einfüh- rung beginnen. Österreich ist eine demo- kratische Republik, das Recht geht vom Volk aus. Interessant ist, dass man Demokratie nur schwer definieren kann, per se gibt es keine allumfassende Definition von Demo- kratie, eine bekannte lautet: „Government of the people, by the people, for the people“ (Abraham Lincoln). Vielmehr muss ein Staat zumindest vier Kriterien erfüllen, um als demokratisch klassifiziert werden zu können: erstens unabhängige und freie Wah- len, zweitens alle Bürgerinnen und Bürger können am politischen Prozess teilhaben, drittens Bürgerrechte (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, etc.) und viertens eine ver- antwortliche Regierung. Demokratisch ist ein Land schnell, es geht darum, ob ein Staat demokratischer oder weniger demokratisch ist. Die Demokratie, ein hohes Gut, ist in Österreich in der Verfassung verankert – gut so. Eine Republik zeichnet sich durch drei Punkte aus: erstens üben mehrere die Macht aus, zweitens Dauerhaftigkeit und drittens Machtverteilung. In Österreich gibt es eine Bundesregierung und neun Landesregierun- gen (mehrere üben Macht aus), die öster- reichischen Institutionen sind so ausgelegt, dass sie Krisenzeiten überstehen können (Dauerhaftigkeit) und die drei Staatsgewalten – Exekutive, Legislative und Judikative – haben bestimmte Kompetenzen (Machtverteilung). Österreich ist zudem eine parlamentarische Republik mit präsidentiellen Elementen. Klingt hochkomplex, ist aber ganz einfach. Die Gesetze werden in Österreich vom Parlament beschlossen, das Parlament setzt sich aus National- rat und Bundesrat zusammen und hat zwei primäre Aufgaben: erstens die Gesetzgebung (Legislative) und zweitens die Kontrolle der Regierung. Somit muss jedes Gesetz vom Parlament beschlossen werden, um rechtskräftig wirken zu können. Zu den Aufgaben des Parlaments und der Regierung sowie zu den grundlegenden Punkten des Gesetzgebungsprozesses komme ich in der nächsten Ausgabe von „politik. verstehen.“ Österreich hat einen Bundes- präsidenten mit geschwächten Kompetenzen, der Bundespräsident hat weder den Einfluss noch die Kompetenz wie beispielsweise der U.S. Präsident. Die Befugnisse des Bundespräsidenten sehen wie folgt aus: Bundespräsident/in ernennt Bundeskanzler/in, ernennt und entlässt Bundesminister/innen (um Minister zu entlassen, ist ein Antrag vom Bundeskanzler erforderlich – der Präsident kann sich nicht selbstständig machen!), der Präsident ist Oberbe- fehlshaber über das Heer und vertritt die Republik nach außen. Man sieht, dass der Bundespräsident bedeutungsvolle Kompetenzen innehat. In der ersten Ausgabe möchte ich auch noch kurz die Geschichte von der Habsburger-Monarchie hin zur zweiten Republik skizzieren. Nach dem ersten Weltkrieg ist die kaiserliche und königliche Monarchie zerfallen. Die proviso- rische Nationalratsversammlung hat am 12.10.1918 die Republik „Deutschöster- reich“ ausgerufen, das kleine Österreich hat sich Deutschland angeschlossen, da es für die Politiker nach dem 1. Weltkrieg nicht überlebensfähig gewesen ist. Der Vertrag von Germain bedeutet aber das schnelle Ende der Republik „Deutschösterreich“. Neben territorialen Bestimmungen (z.B. Südtirol) und die Ablehnung einer allgemeinen Wehrpflicht verbietet der Vertrag von Ger- main explizit den Anschluss an Deutschland. Übrigens hat erst im Jahre 1919 die erste allgemeine und gleiche Wahl von Mann und Frau stattgefunden – ja Frauen dürfen erst seit gut 100 Jahren wählen! Laut Verfassung vom 1.10.1920 ist Österreich eine rein parlamentarische Republik, das heißt, dass es keinen Bundespräsidenten gibt, dies liegt daran, da man eine kaiserähnliche Figur in Österreich vermeiden wollte. Erst mit der Novelle des Bundes-Verfassungs- gesetz (B-VG) 1929 wird ein direkt vom Volk gewähltes Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, eingeführt. Eine Novelle ist eine Veränderung eines bereits bestehenden Gesetzes. Das B-VG 1929 fußt auf den demokratischen (freie und gleiche Wahlen), republikanischen (es gibt Präsident und Parlament), bundes- staatlichen (Bund und Länder haben separate Kompetenzen) und rechtsstaat- lichen (Gesetze müssen verfassungskonform sein) Prinzipien. In den 1920ger Jahren erlebt Österreich eine tiefe Wirtschaftskrise, eine Hyperinflation. Dies führt zu einer zunehmenden Polarisierung und die beiden großen Parteien, die Christlich-Sozialen und die Sozialdemokraten, führen paramilitärische Einheiten ein, um sich mit Waffen verteidigen zu können, die Wehrpflicht ist immer noch verboten. Es kommt immer wieder zu Konflikten zwischen den beiden Einheiten, trauriger Höhepunkt ist dabei der Brand des Justizpalastes 1929, über 90 Menschen haben dort ihr Leben verloren. Auch politisch ist es schwierig gewesen, in einer polarisierten Gesellschaft Entscheidungen zu treffen. Ein Patt in der Geschäftsordnung verhilft Doll- fuß zum unumstrittenen Kanzler von Österreich. Somit ist die schleichende Entwicklung von der demokratischen Republik hin zum Ständestaat perfekt. Dollfuß verbietet die paramilitärische Einheit der Sozialdemokraten, den republikanischen Schutzbund, die NSDAP und die kommunistische Partei, dies endet in den Februarkämpfen. Dollfuß und seine vaterländische Front gehen als Sieger aus diesen Kämpfen hervor und dies festigt die Diktatur, den Austrofaschismus. 1934 wird Dollfuß von den Nationalsozialisten bei einem Putschversuch ermordet. Schuschnigg folgt Dollfuß und Schuschnigg hat Adolf Hitler zugestehen müssen, dass die NSDAP in Österreich wieder erlaubt ist. Schuschnig selbst tritt imMärz 1938 zurück, dies ist das Ende des Austrofa- schismus und es kommt zum Anschluss an das deutsche Reich. Es ist wichtig zu betonen, dass es schon vor 1938 in Öster- reich eine Diktatur gegeben hat! Nach Kriegsende 1945 wurden die Grenzen von Österreich so hergestellt, wie sie vor dem Anschluss 1938 waren und in vier Be- satzungszonen geteilt. Doktor Karl Renner wurde mit der Wiedererrichtung einer demokratischen Republik beauftragt. Die Souveränität und Unabhängigkeit erreichte Österreich erst zehn Jahre nach Kriegsende mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages am 15. Mai 1955. Dieser hat Verfassungsrang und beinhaltet folgende Punkte: Anschluss- verbot an Deutschland, Minderheitenrechte (Slowenen in Kärnten, Kroaten im Burgen- land), Österreich muss demokratische Regierung haben, Verbot von Wiederbetäti- gung (keine nationalsozialistische Aktivi- tät – Grundstein für Wiederbetätigungs- gesetz) und die immerwährende Neutralität (Österreich darf sich keinemmilitärischen Bündnis anschließen). Zehn Jahre hat es gedauert, bis Österreich ein souveräner und unabhängiger Staat geworden ist. Das sind über 520 Wochen, über 3650 Tage oder über 87600 Stunden, in denen verhandelt worden ist, bis es endlich geheißen hat: „Österreich ist frei!“ (Leopold Figl). In der nächsten Ausgabe geht es um das Parlament und den Gesetzgebungsprozess.

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