GZ_Virgen_2020_11

Virger Zeitung 45 Wirtschaft – Tourismus Nerven gekostet, aber ich hatte alle gleich gern und war gleichermaßen um das Wohl jeder Einzelnen be- müht. Dass ich manches vermissen werde wird irgendwann vergehen, aber die Erinnerung bleibt. Vom ersten Tag an verbrachte ich viel Zeit beim Vieh und während ich versuchte, Gefahrensituationen zu vermeiden und ihren Weg in sichere Bahnen zu lenken, hatte ich sehr bald den Eindruck: Es liegt nicht in meiner Macht ob etwas passiert. Ich konnte nicht bei allen gleichzeitig sein, war manchmal machtlos und mir wurde klar, ich brauchte einen Segen. Obwohl ich kein gläubiger Mensch bin, fing ich an abends ein ,Vater unser‘ zu singen und legte darin alle Hoffnung, dass ich am Ende jede Kalbin wieder gesund nach Hause bringen kann. Alles Beten und Hoffen war jedoch verge- bens. Am 18. Juli stürzten Golda und Glora, offenbar gemeinsam, tödlich ab. Wenn zwischen Angst und Sorge, nasser Kleidung und durchgefrorenen Füßen der ersten zwei Wochen zwischendurch Freude aufkam, war mit diesem Moment jede Freude gestorben. Niemand machte mir einen Vorwurf, aber na- türlich fühlte ich mich verantwort- lich. Um das zu verhindern, war ich schließlich da. Ich wollte zurück in mein bequemes Leben im Tal keh- ren, aber es galt für den Rest der Mannschaft weiterhin Sorge zu tra- gen und ich musste mich zusam- menreißen und weiter machen. Mit den verbleibenden 46 Kalbin- nen zog ich weiter in die Höhe und mit meinen Habseligkeiten in die Pfarfhütte ein. Die Zeit dort konnte ich zwischendurch auch genießen und ich schöpfte wieder Kraft, Mut und Zuversicht. Einsam fühlte ich mich nur dann, wenn jemand, der bei mir war, wieder zurück ins Tal ging, aber ich war viel allein. Man verändert sich, wenn man viel allein ist, weil man merkt, dass es auch ohne die anderen Leute und deren Bestätigung geht. Manchmal bin ich an meine Grenzen gestoßen, aber genau das hat mich ein bisschen stärker gemacht. Den Leistungs- druck, dem man im Tal ständig ge- recht werden muss, gibt es auf der Alm nicht, aber ich hatte auch oben den Gedanken, was ich nicht alles hätte besser oder anders machen können. Ich habe mein Bestes gege- ben und was soll ich noch mehr tun. Das einfache Leben mit und in der Natur bringt einen wieder näher an das Wesentliche heran und das ist der Kontrast zu unten. Tiere sind ehrlich und sie urteilen nicht. Es gibt keine Ausreden, Notlügen oder verschleierte Wahrheiten. Die Natur und die Tiere sind für mich Quelle jeder Lebensenergie und mit Tieren zusammen zu sein ist wahre Lebens- qualität. Wir leben am Leben vor- bei, weil wir einen Verstand haben. Die Tiere leben uns jene Grundna- türlichkeit vor, die wir verlernt haben. Im Tal ist man ständig hin und hergerissen zwischen Arbeit, Terminen, Erwartungshaltungen an- derer und dem Leistungs- und Gel- tungsdruck im Allgemeinen. Wir haben Angst etwas zu verpassen und dass uns die Zeit davonrennt und dabei sind wir nirgendwo ganz und nie wirklich bei uns selbst. Wir haben verlernt im Hier und Jetzt zu sein und einfach nur zu leben. Gerade in der heutigen Zeit ist es wichtig, dass man sich einen inneren Frieden bewahrt und genau diesen Frieden erlebte ich auf der Alm. Ein Leben ohne Alm, den Tieren und der Natur kann und will ich mir nicht mehr vorstellen. Das Leben war einfach, anstrengend und ein- sam, aber meine Welt da oben war in Ordnung. Ich war mit mir im Reinen und fühlte mich irgendwie vollstän- dig. Ich hatte nicht viel, ich brauchte nicht mehr. Mag. Christina Gollner das leben auf der alm ist einfach, anstrengend und einsam, aber die Welt ist für die 39-Jährige „da oben“ noch in ordnung. Fotos: michael Widmann

RkJQdWJsaXNoZXIy MTUxMzQ3