GZ_Gaimberg_2020_07

16 16 Die Sonnseiten Nummer 60 - August 2018 Ein Versuch etwas in wenige Worte zu gießen, das eigentlich nur erfahren werden kann Letztens kommt eine Frau mittleren Alters am Ende der ersten, daher bewusst ruhigen bzw. weniger körperlich an- spruchsvollen Einheit, eines Yogakurses zu mir. „Es tut mir leid, ich glaube, das ist nichts für mich. Ich will mehr Workout. Nimm mich bitte von der Liste.“ Als ich am nächsten Morgen mein Han- dy einschalte, lese ich folgen- de SMS: „Bitte, ich will un- bedingt wiederkommen! Ich habe so gut geschlafen wie schon sehr lange nicht mehr.“ Sie kommt wieder. Und wie- der. Und wieder. Warum Yoga statt daheim- bleiben? Die meisten Menschen kom- men zum Yoga über den Weg des Körpers: Rücken- schmerzen, Verspannungen, ein sitzender Beruf und der Drang nach ganzheitlicher Bewegung, der Wunsch nach mehr Beweglichkeit. Viele sind gefordert und gehetzt von ihrem Leben und su- chen einen Ausweg aus dem Hamsterrad. So wird nicht selten Yoga als Heilmittel ausprobiert. Die meisten, die einmal kommen, bleiben. Dank der unglaublich großen Bewegungsvielfalt, der Va- riationen für unterschiedlich erfahrene Menschen und den ausgesprochen ausgefeil- ten Bewegungsvorschlägen werden durch die körperli- chen Übungen - Asanas - Rückenschmerzen gelindert, Verspannungen weichen, Kraft wird aufgebaut, ein positives Körpergefühl wieder hergestellt oder eben der Schlaf verbessert. Der Unterschied zwischen Phasen mit Yoga und Phasen ohne Yoga wird mit der Zeit so deutlich, dass sich die Fra- ge nach dem „ob überhaupt“ schnell nicht mehr stellt. Nun fragen sich viele, ob sie grundsätzlich für diese Form des „Sports“ geeignet sind. Die Lieblingsausrede „ich bin viel zu unbeweglich für Yoga“, die ich sehr häufig höre, beantworte ich mit der genauso absurden Gegenfra- ge: „Bist du auch zu schmut- zig, um dich zu waschen?“ Entgegen der Irrmeinung mancher ist Yoga, wie es gemeint ist, keine Körperbe- wegungsshow à la schneller, höher, weiter oder schöner, veganer, glücklicher. ImYoga geht es nicht in erster Linie darum, dass du deine Zehen berühren kannst. Es geht da- rum, was du am Weg dorthin über dich lernst, ein in Yoga- kreisen gerne verwendetes Bild, das den eigentlichen Yo- gaweg nach innen beschreibt. „Dass du dabei beweglicher und kräftiger wirst ist ein wunderbarer Nebeneffekt.“ Eine Yogaklasse ist Bewe- gen. Atmen. Entspannen. Oft. Aber nicht immer. Was erwartet Menschen also, wenn sie in eine Yogastunde kommen? Ganz grundsätzlich muss hierzu gesagt werden, dass jeder einzelne Yogaleh- rer seine Ausbildung, seinen Charakter und seine persönli- chen Erfahrungen wesentlich in den individuellen Unter- richtsstil und das Unterrichts- konzept einfließen lässt. Und das ist auch gut so, weil auch die „Yogalehrlinge“ unter- schiedliche Ansprüche an ihre Lehrerinnen haben. Zu- dem wird beinahe jeden Tag ein neuer Yogastil geboren und da mag es sein, dass man ein wenig ausprobieren muss, bevor man den passenden Stil samt inspirierender Lehre- rin gefunden hat. Fündig ge- worden, bleiben die meisten dieser ersten Lehrperson tief verbunden. Kommt jemand in meine Yogaklasse, hört er am An- fang der 90 Minuten eine Anekdote aus meinem Le- ben oder bekommt eine Ge- schichte vorgelesen, über die ich den Bogen zur yogischen Philosophie spanne. Aus die- sem unendlich großen Pool an jahrtausendealter Weisheit wähle ich ein Thema für die mentale Ausrichtung wäh- rend der Yogaeinheit. „Zu- friedenheit“, „Fülle und Lee- re“ oder „Selbstmitgefühl“ können Themen sein, aber auch ganzkörperliche Berei- che wie der Brustkorb, die Hüfte oder die richtige und ökonomischste Ausrichtung von Fuß und Knie. All das setzt einen körperlichen und mentalen Impuls und kann mit in den Alltag genommen werden. Nun beginnt die Be- wegungs- also Asanapraxis, die sich am Stundenthema, also der mentalen Ausrich- tung orientiert und diese im- mer wieder mit einbezieht. In vorbereitenden Schritten wird der Körper gekräftigt, geöffnet und gezielt auf die Haltung vorbereitet, die als Höhepunkt der Asanapraxis bezeichnet wird. Das kann eine herausfordernde Haltung sein, wie etwa das Rad (in unserem Sprachgebrauch die Brücke), der bekannte Baum oder einfach nur bewusstes Stehen - die Berghaltung - in der jeder Muskel genau weiß, was er zu tun hat und wie er sich ausrichtet und so bloßes Stehen ein ganzkörperliches Erlebnis werden kann. So werden Körper und Geist miteinander in einen Fokus gebracht. Yoga als bewusste, konzentrierte Aktion. Und hier liegt ein Geheimnis der nachhaltigen Wirkung des Yoga verborgen. Wer die Yo- gastunde seines Lieblingsleh- rers verlässt, kann sich voll und ganz seiner Führung hin- geben, Alltagsgedanken ab- geben, Geist und Körper auf etwas Positives ausrichten und in Einklang bringen. Was folgt sind Klarheit und inne- rer Frieden, die permanent herein- und hinausströmen- den Gedanken sind für eine Weile zur Ruhe gekommen. Eine weitere Perle des Yoga ist die konzentrierte Lenkung des Atems - Pranayama. Ei- nerseits als ständig beglei- tendes, bewusstes, geschmei- diges Atmen während der Asanapraxis. Andererseits als eigenständige Übungspraxis. Über den Atem ist es mög- lich, das autonome Nerven- system anzusteuern und dabei den Parasympathikus, der für Entspannung zuständig ist, zu aktivieren. Es gibt weni- ge Techniken, die einen so direkten Einfluss auf dieses, unseremWillen grundsätzlich Yoga - eine Erfahrungswissenschaft Allgemein i i n Nummer 66 - J li 2020 Fotos: Nathalie Steinlechner-Paulowitsch

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