GZ_Obertilliach_2019_05

Rund ums Dorf Seite 39 Mai 2019 Landarzt Dr. Josef Obmascher Dr. Josef Matthias Obmascher Hausarzt von Obertilliach Foto: Dr. Obmascher Dass die körperliche Jugend vorübergeht, ist bedauerlich aber unabwendbar. Medizinisch gesehen ist Altern ein Segen. Der Blick wird ruhiger, er sucht nicht immer nach Neuem, sondern nach Beständigem. Was habe ich nicht alles kommen und wieder gehen sehen. Wie viele Fortbil- dungen habe ich besucht, in denen neue Medikamente und Therapien angepriesen wurden, um ein paar Jahre später wieder in der Versenkung zu verschwinden. Mit Staunen habe ich das Aufkommen neuer Krankhei- ten von Burn out bis Colon irritabile erlebt oder manche skurrile Therapien oft widerwillig in den medizinschen Alltag integriert. Mit noch mehr Verwunderung habe ich nur den Niedergang des ärztlichen Hausverstandes be- obachtet – Hand in Hand mit der Zurückdrängung des Hausarztes. Wir haben vergessen, dass der Patient eigentlich der „Leidende“ und Diagnose „durchblicken“ heisst. Zum Beispiel ist es völlig sinnlos einer 95-jährigen Patientin, die an Maculadegeneration leidet, eine Staroperation oder einem Patienten mit metastasierendem Carcinom, eine Wirbelsäulenoperation, angedeihen zu lassen. Wir haben das Augenmaß verloren. Ärztliches Denken findet nur noch analog in der Röhre statt. Digital, mit den Fingern, wird nichts mehr gemacht. Die Forderung ,übergewichtige Diabetiker, sollten zunächst ihr Körper- gewicht reduzieren, löst bei Betroffenen und jungen Kol- legen gleichermaßen Kopfschütteln aus. Wozu gibt es Medikamente? Wenn wir einmal keine Patienten haben, behandeln wir Befunde. Selbstzweifel und das Bedürfnis meinen Patienten optimale Medizin zu bieten, steigen in gleichem Masse. „Primum nihil nocere – erstens nicht schaden“ wird im- mer wichtiger. Dies bedeutet auch manchmal Zurückhal- tung bei pharmakologischen Interventionen. Während ein allergischer Schock, bespielsweise nach einer Injek- tion, in der medizinischen Jugend eine Mutprobe war, habe ich heute größten Respekt vor eventuellen Kompli- kationen. Immerhin geht es stets um Menschenleben. „Scio nescio – ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird im- mer bedrückender. Wem und welcher Studie darf ich noch glauben? Wie soll ich mit meiner eigenen Wirkung auf Patienten umgehen? Ich frage mich zusehends, ob unser Gesundheitssystem nicht noch mehr Kranke pro- duziert, als es leidenden Menschen hilft. Wenn ich abends mit dem Blick eines Astronauten vom Mond auf die Erde mich selbst betrachte, kann ich weder mich selbst noch die Medizin erkennen. Nur eine schöne zerbrechliche blaue Kugel im Schwarz der Ewig- bzw. Un- endlichkeit. Und dies beruhigt. Aber ich gehöre ja auch inzwischen zur Generation 60+. Dr. Josef Matthias Obmascher Aus der Sicht eines älteren aber noch motivierten Landarztes Der Arztberuf im Wandel der Zeit. Massive Zurückdrängung der Hausärzte? Niedergang des ärztlichen Hausverstandes? Moderne Medizin - nur Segen oder auch Fluch?

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