GZ_Tristach_2019_06

10 Randbemerkungen zu Tourismus in Tristach Juni 2019 Die Abenteuer des Herrn W. Randbemerkungen zu Tourismus in Tristach Bis zur Jahrtausendwende war Tristach ein echter Tourismusort, seh- und hörbar. An lauen Sommer- abenden schlenderten Heerscharen von Gästen durch das Dorf, Gäste saßen auf der Hausbank und unterhielten sich mit Einheimischen, im Gasthaus musste auf einen freien Tisch gewartet werden, in den Gärten wurde gegrillt und bei Prozessionen säumten Schaulustige den Weg. Über die „Fremden“ gibt es viele Gschichtln, nette, lustige und sonderba- re. In loser Folge will der Koflkurier davon erzählen. E r, Klempner von Beruf, war ein blonder Hüne und kam um 1970 das erste Mal nach Tristach. Sein Arbeits- platz waren die Dächer von Berlin. Fast dreißig Jahre lang war er Gast in unserem Haus und wurde zum Freund der Familie. Er kam allein, mit einem oder zwei Kumpels oder mit seiner Mutter. Die „Gitanes“, die französische Zigarette in der blauen Schachtel war seine ständige Begleiterin und unauffällig war er auch dem Alkohol zugeneigt. In seinem ersten Osttirol-Urlaub hatte er ein großes Aben- teuer geplant. Mit Zelt und Rucksack ausgerüstet, hat- te er sich zu einer mehrtägigen Durchquerung der Schobergruppe entschlossen. Spätestens in vier oder fünf Tagen wollte er wieder zurück sein. Solche Angaben bedeu- teten für die Gastgeber in der han- dyfreien Zeit sorgenvolles Warten. Er ließ sich von einem Freund nach Oberleibnig fahren und stand drei Tage später gutgelaunt mit einem Sonnenbrand und sonst nichts vor der Tür. Das war so gekommen: Nach der Wande- rung zur Hochschoberhütte hatte er dort ausgiebig getafelt und war am späten Nachmittag zum Etappen- ziel, dem Gartlsee aufgestiegen. Schon als er das Zelt aufbaute, fielen die ersten Tropfen. Ein fürchterliches Unwetter entlud sich, Blitz folgte auf Blitz und der Sturm rüttelte am Gestänge. Um Mitternacht stand er pudelnass im Freien. Der Wind hatte das Zelt zerfetzt. Notdürftig wickelte er sich in dessen Reste ein und wartete den Morgen ab. Was von seinem Nachtlager übrig geblieben war, versenkte er in einer Felsspalte. Ständig die Markierung suchend, stieg er am nächsten Morgen bei Nebel und Nieselregen zur Lienzerhütte ab. Wäh- rend er in der Hütte schmauste, riss die Wolkendecke auf. Er beschloss, sich zum Trocknen auf ein paar Bretter in der Nähe der Hütte zu legen und schlief mehrere Stunden. Gerös- tet machte er sich auf den Weg zur Wangenitzseehütte, um dort im Trockenen zu übernachten. Nachdem der Rucksack nicht so schnell wie er getrocknet war, entsorgte er ihn in ei- ner Mulde und deckte ihn sorgfältig mit Steinen ab, damit ein zufällig vorbeikommender Bergretter nicht auf die Idee käme, nach dem Besitzer suchen zu lassen. Völlig ballastbefreit stieg er am nächsten Morgen ins Tal ab. Sollte am Gartlsee einmal ein Campingplatz wachsen, habe er den Samen gesät, pflegte er später zu sagen. W. war ein Freund der Schwammerln. Er kannte alle und aß auch (fast) alle. Er genoss das seltene Privileg, seine Pil- ze in unserer Küche zubereiten zu dürfen. Ein Duft von leicht gebräunter Butter, Zwiebeln, Knoblauch und Pilzen zog durch das Haus und ein Blick in die Pfanne war ein Augengraus. Es schimmerte in allen Farben, violett, gelb, rot, braun, weiß, schwarz und obendrauf krümmten sich ein paar kleine Maden. Nachdem wir das Mitessen, ja selbst das Kosten verwei- gert hatten, aß er die ganze Pfanne nebst eines Weckens Weißbrot al- leine auf. In der Hochzeit des Touris- mus in Tristach hatten die Gäste das ganze Urlaubsbudget meist in bar bei sich. Das Land lag noch bankomatlos da. W. hatte sich vor seinen Urlauben in Ame- rika und Kuba eine Super 8 Ka- mera zugelegt. Nun filmte er alles, was ihm vor die Linse kam, vor al- lem bewegte Natur: Halme im Wind, Vogelflug, fließendes Wasser … Er hatte beim Abstieg von der Kerschbaumeralm beim Klammbrüggele einen Blick in die Tiefe getan und die Kamera aus der Tasche gezückt. Dabei flog die dort befindliche Geldtasche im hohen Bogen in das tosende Wasser. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes das Nachsehen. Ganz wollte er sein Bares noch nicht aufgeben und setzte sich in Unkenntnis der Tücken und Fließgeschwin- digkeit eines Gebirgsbaches am nächsten Tag mit einem Freund an das untere Ende der damals noch jungfräulichen Galitzenklamm, um das Vorbeischwimmen seiner Geldtasche zu überwachen. Umsonst. Am Haustelefon bat er dann seinen Chef nach kurzer Erklärung um die Zusendung einiger Hunder- ter, die am nächsten Tag prompt per Postanweisung kamen. Herr W. starb, von uns betrauert, kurz vor seinem 50. Ge- burtstag. Er hatte zu viel gelebt. Könnte er das hier lesen, wür- de er schallend lachen. Burgl Kofler A m G a r t l s e e , 2 . 5 7 1 m ( F o t o © W a l t e r M a i r )

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