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ne Form Baumanns sukzessive verkastelt
und verkitscht (Abb. 5). Im Gegensatz
zum oben beschriebenen Hauptschulbau
ist hier die Kaschierung mit historisieren-
dem Fassadendekor völlig sinnentleert,
weil ohne Bezug zu etwas Dagewesenem.
Pseudohistorisches oder folklorisierendes
Fassadenstyling in Form von Fenster-
faschen in allen erdenklichen Spielarten
findet man heute insbesondere an jenen
Stadthäusern, die infolge radikaler Um-
baumaßnahmen ihr wahres historisches
Gesicht verloren haben oder deren alte
Bausubstanz überhaupt gegen neue ausge-
tauscht wurde (vgl. Volksbankgebäude/
historisches Obersteiner- später Ranner-
haus). Daß mit derlei Klischees gerade
jene Identität verlorengeht, die man so
gerne gesichert haben möchte, ist vielfach
nicht bewußt. Neues Bauen in alter Um-
gebung birgt immer den Konflikt zwischen
zwei Notwendigkeiten: nämlich der Be-
wahrung des baulichen Erbes und die Ent-
faltung der zeitgenössischen Architektur.
Die besondere Anforderung an den Ar-
chitekten besteht also darin, diesen Kon-
flikt so zu lösen, daß eine Beziehung zwi-
schen dem Alten und dem Neuen entsteht,
ohne vordergründig anbiedernd zu
sein. Das Umbauprojekt Bürgerspital
(BORG), das in den Jahren 1984 bis 1992
nach den Plänen von Architekt Dieter
Tuscher durchgeführt wurde, steht als Bei-
spiel dafür, daß die Verbindung mit zeit-
genössischen Architekturformen nicht zu
einer kompromißlosen Konfrontation
führen muß, sondern durchaus als Lö-
sungsprinzip in Einfügungsfragen ange-
bracht ist. Neu hinzukommende Bauteile
wie etwa das zylinderförmige gläserne
Fluchttreppenhaus oder die Turnhalle mit
ihrer aufragenden Fensterglaswand und
dem Fahrradunterstand werden nicht
durch ein „historisches Kleid“ verschleiert,
sondern stehen in deutlichem Gegensatz
zum Massivbau des Altgebäudes und zur
Stadtmauer (Abb. 6). Die eigenständige
Formensprache, die neuen Materialien und
Konstruktionsweisen der zeitgenössi-
schen Architektur werden selbstbewußt,
aber in spürbarer Korrespondenz zur alten
Umgebung eingesetzt: So sind die Leich-
tigkeit und Transparenz des Stahl-Glas-
Skeletts ganz entscheidend für das Wirk-
samwerden des bauhistorischen Hinter-
grundes. Das Hauptgebäude als auch die
mittelalterliche Stadtmauer mit Turm
werden nicht verdeckt, sondern vermögen
das Neue sichtbar zu durchdringen. Ein
Dialog zu den sprossengegliederten Fen-
stern des Altbaus wird durch die feinge-
gliederte Rasterung des Treppenturms ge-
schaffen. Das Neue behauptet sich, ohne
laut zu werden, ohne den Eindruck eines
isolierten Fremdkörpers zu erzeugen.
In Lienz ungelöst erscheint die Frage
hinsichtlich eines sinnvollen Fortbestehens
einiger an verschiedenen Stellen der
Stadt vor-sich-hin-bröselnden baulichen
Fragmente der Vergangenheit, vielfach
Gebäude, die ihren ursprünglichen
Zweck überlebt haben, wie etwa die
baufälligen Überreste des frühneuzeit-
lichen Messingwerks (Abb. 7) oder die ge-
mauerten Stadel mit ihren charakteristi-
schen Ziegelgitterfenstern als ausgediente
Relikte des Lienzer Ackerbürgertums
oder die baulichen Objekte an der westli-
chen Stadtmauer südlich des abgerissenen
Bürgertors (Rosengasse 19). Es sind Bau-
lichkeiten, die vom Entwicklungsschub
dieses Jahrhunderts mehr oder weniger un-
berührt blieben und heute in der moderni-
sierten Altstadtumgebung wie Bruchstel-
len erscheinen. Trotzdem sie oder gerade
deswegen, weil sie vom Alltagsblick des
Einheimischen vielfach gar nicht mehr be-
wußt wahrgenommen werden, sind diese
historischen Relikte wichtige identitäts-
bildende Objekte der Stadt Lienz. Mit de-
ren Abriß würde man den Lienzern eine
„eingeprägte Gewohnheit“ und ein Stück
Stadtgeschichte nehmen. Zudem bildet das
alte Gemäuer mit seiner unregelmäßigen
Struktur und Patina ein ästhetisch reizvol-
les Potential; in Kontrast gesetzt zur Glät-
te und technischen Perfektion neuer Bau-
materialien eröffnet es unkonventionelle
architektonische Lösungswege.
Fortsetzung folgt
O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
Nummer 3 –– 65. Jahrgang
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren
verantwortlich.
Anschrift der Autorin dieser Nummer: Mag.
Andrea Kollnig-Klaunzer, A-9990 Nußdorf-
Debant, Obernußdorf 63.
Manuskripte für die „Osttiroler Heimatblät-
ter“ sind einzusenden an die Redaktion des
„Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Pizzi-
nini, Albertistraße 2a, A-6176 Völs.
Abb. 7: Überreste des historischen Messingwerks.
Foto: A. Kollnig-Klaunzer
Abb. 6: Turnsaaltrakt des BORG Lienz – eine Synthese aus altem Gemäuer und Bau-
materialien unserer Zeit.
Foto: A. Kollnig-Klaunzer