Seite 4 - H_1997_07

Basic HTML-Version

der Wagen beladen, und wir fuhren nach
Amstetten. Die Eltern und meine Schwe-
ster wurden dort bei einem Bauern unter-
gebracht und konnten am nächsten Tag
mit dem Abendzug Richtung Lienz fahren
– für uns ins Ungewisse, denn auf Wochen
war nun die Möglichkeit der Kontakt-
nahme unterbrochen.
Die Flucht verlief ohne größere Zwi-
schenfälle. Stemberger übernachtete noch
einmal in Bischofshofen bei einem befreun-
deten Arzt, ehe er nach Lienz kam. Hier
fand er mit seiner Frau und seiner Tochter
gastliche Aufnahme und Unterkunft bei sei-
nen Verwandten in der Alleestraße 27.
Tatsächlich konnte der Sohn Edwin seine
Eltern und seine Schwester erst im August
1945 in Lienz wiedersehen. Während des
Sommers hielt sich Stemberger hauptsäch-
lich bei seinem Bruder Toni am Nitzerhof in
St. Veit auf. Sowohl von jenem als auch von
seinen Lienzer Angehörigen erfuhr er
großzügige Unterstützung. Er pflegte auch
mit Osttiroler Politikern Kontakte.
Im Herbst 1945, als die ersten National-
rats-Wahlen vorbereitet wurden, war der
Lienzer Bezirkshauptmann Theodor von
Hibler als Kandidat im Gespräch, der es
jedoch vorzog, auf die Kandidatur zu ver-
zichten und sich ausschließlich seiner Ar-
beit im Bezirk zu widmen. Statt seiner
schlug er seinen Freund Stemberger vor.
Die Nominierung Stembergers war jedoch
nicht ganz unproblematisch
18
: da er seit
seiner Jugend nur selten in seiner Heimat
war – zumeist nur in den Ferien – hatte
man die Befürchtung, er habe den Kontakt
zur bodenständigen Bevölkerung verloren.
Dazu kam noch sein angegriffener Ge-
sundheitszustand
19
.
Die Nationalratswahl fand am 25. No-
vember 1945 statt. Die ÖVP bekam mehr
als 80 % der Stimmen
20
. Vom 19. Dezem-
ber 1945 bis zu seinem Tod am 8. Juli
1947 war Stemberger Abgeordneter des
Nationalrates. Er wohnte in Lienz und fuhr
zu den Sitzungen nach Wien. Diese Fahr-
ten waren außerordentlich strapaziös, ins-
besondere im Winter, da die Züge oftmals
ohne Heizung und teilweise ohne Fenster,
nur mit Holzplanken verschlagen waren.
Das Passieren der Demarkationslinie am
Semmering und die Kontrolle durch die
zeitweise willkürlich vorgehenden russi-
schen Grenzposten war stets ein unange-
nehmes Erlebnis.
Die Bereitschaft Stembergers, über die
Parteigrenzen hinweg zusammenzuarbei-
ten, wurde allgemein gelobt. Es gelang
ihm aufgrund seiner profunden Kennt-
nisse und seiner konzilianten, stets aber
grundsatztreuen Haltung, sich bald Sym-
pathie und Achtung bei den anderen Ab-
geordneten und Regierungsmitgliedern
zu erwerben. Dabei kam ihm auch der
Umstand zugute, daß er mit mehreren Ab-
geordneten und anderen Persönlichkeiten,
namentlich solchen, die unter dem NS-
Regime ausgeschaltet waren oder gelitten
hatten, persönlich bekannt oder befreundet
war. Ihn verband vor allem mit dem Prä-
sidenten der Bundeswirtschaftskammer
und nachmaligen Bundeskanzler Ing.
Julius Raab sowie mit dem damaligen
Bundeskanzler Ing. Leopold Figl eine
enge Freundschaft.
O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
65. Jahrgang –– Nummer 7
Heutige Aufnahme der Wallfahrtskirche Brezje (Bresiach) in Slowenien, in der Josef
Stemberger im Jahr 1917 Anna Mellitzer heiratete.
Ehemalige Strohhutfabrik Stemberger-Mellitzer in Menges
ˇ
(Mannsburg) bei Laibach.