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Nummer 10/1998
66. Jahrgang
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Martin Kofler
Italiens Doppeldecker über Lienz
Eine Lokalstudie zur Geschichte Tirols im Ersten Weltkrieg
Welche Ziele verfolgten die Italiener mit
ihrem Luftangriff auf Lienz vom 7. Sep-
tember 1918? Wie reagierte die Bevölke-
rung? Welche geänderten Rahmenbedin-
gungen in punkto Kriegsverlauf und
Technik hatten den Bezirk Lienz über-
haupt erst in die Reichweite „feindlicher“
Granaten und Fliegerbomben gerückt? Der
folgende Aufsatz setzt die kurze Episode
zwei Monate vor Kriegsende in den größe-
ren Kontext und versucht auf diese Weise,
Einblick in die Geschichte des Bezirks im
Ersten Weltkrieg zu geben.
1
Mit der Kriegserklärung Österreich-
Ungarns an Serbien am 28. Juli 1914
sowie den weiteren Kriegserklärungen und
Mobilmachungen begann der „Große
Krieg“, der aufgrund seiner langfristigen
Auswirkungen als „Urkatastrophe“ des 20.
Jahrhunderts bezeichnet werden kann.
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Doch erst mit dem Kriegseintritt Italiens
auf der Seite der Entente-Mächte Frank-
reich, Großbritannien und Rußland am 23.
Mai 1915 wurde das „Hinterland“ Tirol
zum „Operationsgebiet“. Damit geriet
auch der Bezirk Lienz in die unmittelbare
Nähe des Kriegsgeschehens, zumal Teile
der damaligen alten Grenze direkt an der
Südfront lagen.
3
Die italienischen Angriffe auf den Be-
zirk 1915 bis 1917 konzentrierten sich be-
sonders auf die Pustertalbahn, doch eine
Unterbrechung oder gar ein entscheiden-
der Vorstoß blieb aus. Auf österreichischer
Seite wußte man um die große militärische
Bedeutung dieser Eisenbahnverbindung
neben der Brennerstrecke und baute sie
deshalb seit der italienischen Kriegser-
klärung verstärkt aus. Da die Pustertallinie
in der Reichweite der Italiener lag und
deren Artillerie die Gleisanlagen im
Raum Innichen und Toblach beschädigte,
wurde im Sommer 1916 eine fast völlige
Neutrassierung vorgenommen.
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Von
August 1915 bis Oktober 1916 sollen rund
1.100 Granaten auf Sillian niedergegangen
sein, die jedoch im Markt und an der
Bahnlinie nur geringen Schaden anrichte-
ten und hauptsächlich im Wald einschlu-
gen. Die Einwohner flüchteten wiederholt
nach Arnbach, bis die Gefahr vorüber war,
doch schien dieser Nachbarort nach einer
Beschießung 1916 auch nicht mehr sicher
zu sein.
5
Auch das obere Gailtal lag im Bereich
der italienischen Stellungen am Kamm der
Karnischen Alpen. Nach ersten Gefechten
im Raum Obstanzersee und Tilliacher Joch
sollte sich für Obertilliach besonders die
Besetzung des Porze-Gipfels durch die
Alpini bereits Mitte Juni 1915 (bis
Kriegsende) als folgenschwer erweisen.
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Das erste Mal wurde der Ort am 8. Juli
unter Feuer genommen, doch schien mit
dem siebten Angriff am 10. September
1917 „der Untergang des Dorfes“
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ge-
kommen zu sein. Die Brände konnten aber
allesamt gelöscht werden. Auch Kartitsch
erhielt in diesem Zeitraum mehrere
Granatentreffer.
Während 1916/17 die (Lebensmittel-)
Not im Hinterland zunahm und etwa die
Zwangsabgabe von Metallwaren und die
Abnahme der Kirchenglocken die Bevöl-
kerung zusätzlich bedrückte,
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macht
nachstehender Eintrag in die Gendarme-
riepostenchronik Lienz vom 25. Juni 1916
eine Neuentwicklung in der Kriegstechnik
deutlich: „Beschießung von Lienz mit
feindlichen Flugzeugen ohne zu treffen.“
9
Neben dem Ersteinsatz von Giftgas und
Tanks (Panzern) kam die Gefahr im
„Großen Krieg“ nun ebenfalls aus der Luft
– und zwar nicht nur an der Front, sondern
auch im Hinterland. Die Flugzeuge hatten
zwar noch eine begrenzte Reichweite und
Tragfähigkeit, doch konnten sie in den
gegnerischen Luftraum eindringen und
Bomben oder Propagandamaterial abwer-
fen. Im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg
waren nur wenige Todesopfer und kaum
Sachschaden zu beklagen, wobei die
schweren Bombardierungen Paduas
durch k.u.k. Flieger größere Zerstörungen
angerichtet haben dürften als jene der ita-
lienischen Gegenseite in Tirol. Der Angriff
auf Lienz 1916 stand in Zusammenhang
mit der gleichzeitigen italienischen Gegen-
Zerstörte Eisenbahnwaggons am Bahnhof Lienz; im Hintergrund das Heizhaus,
7. September 1918. (Sammlung Fritz Peschke)
Rep.: M. Kofler