Seite 5 - HB_2014_09_10

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der späteren ‚Römer-Baracke‘ hatte mein
Vater mit viel Organisationstalent und
handwerklichem Geschick (er fertigte
sich sogar selbst eine Beinprothese an, die
er fast zehn Jahre trug) die ‚Glockner-Ke-
ramik‘ gegründet. Neben der für den Brot-
erwerb unerlässlichen Gebrauchskera-
mik erzeugte er figürliche Keramik und
Kunstkeramik aller Art in Terrakotta, Ma-
jolika, Fayence und anderen Materialien.
Obzwar Zögling des Bundeskonviktes,
dessen Heimleiter Dr. Adolf Pappenschel-
ler ich sehr viel zu verdanken habe, durfte
ich die Wochenenden bei meiner Mutter im
Barackenlager verbringen und wusste, da
stets sehr neugierig, über vieles Bescheid.
Von einem Kosaken lernte ich das Messer-
werfen, was Jahrzehnte später meinen
Kindern mehr imponierte als meine be-
ruflichen Erfolge.
Dass es im Barackenlager viel ‚Gesin-
del‘ gab, wie manche Lienzer meinten, war
– zumindest während wir dort lebten – kei-
neswegs richtig. So wohnten wir z. B. Tür
an Tür mit Gräfin Radetzky, einer Urenke-
lin von Feldmarschall Radetzky, die aus
Jugoslawien vertrieben worden war. Auf
Grund ihrer internationalen Kontakte u. a.
zur YMCA (Young Men‘s Christian Asso-
ciation) ermöglichte sie mir im Sommer
1956 einen längeren Ferienaufenthalt in
Schweden, wofür ein ‚Fremdpass‘ erfor-
derlich war, da die meisten Vertriebenen
und Flüchtlinge bis circa 1957 als ‚staa-
tenlos‘ galten.
1956 übersiedelten wir in die Frieden-
siedlung, da das Barackenlager für den
Bau des neuen Realgymnasiums und
Bundeskonviktes weitgehend abgetragen
werden musste.
An Raub, Diebstähle, Schlägereien etc.
kann ich mich im Barackenlager nicht er-
innern. Man konnte ohne weiteres die Türe
in den Garten offen lassen. Die aus ver-
schiedensten Ländern zusammen gewür-
felten Vertriebenen und Flüchtlinge wur-
den zwar von einem Teil der Lienzer Be-
völkerung zunächst als Fremdkörper
angesehen, gliederten sich aber in zuneh-
mendem Maße ein, sofern sie nicht später
Lienz verließen. Für mich bildeten diese
Jahre im Barackenlager trotz der nach-
kriegsbedingten Entbehrungen eine wich-
tige Lebenserfahrung und trugen zur Per-
sönlichkeitsbildung sowie Menschen-
kenntnis bei. Außerdem erzogen sie mich
zur Toleranz gegenüber den Mitmenschen
und deren Wertschätzung – unabhängig
von ihrer Herkunft, Bildung und Arbeit.
Nach meiner Lienzer Gymnasialzeit stu-
dierte ich in Wien Bauingenieurwesen an
der Technischen Universität (1963 Dipl.-
Ing., 1966 Dr. techn.), 1971 Habilitation.
Nach 7-jähriger freiberuflicher Tätigkeit
im In- und Ausland wurde ich 1978 zum o.
Univ.-Prof. für Grundbau, Boden- und
Felsmechanik an der Technischen Univer-
sität Graz und 1981 an die Technische
Universität Wien berufen. Bis 2008 war
ich Institutsvorstand. Circa 550 wissen-
schaftliche Veröffentlichungen (erschienen
in 18 Sprachen) wurden von mir publiziert
und ca. 600 Fachvorträge weltweit gehal-
ten. Meine Tätigkeit umfasst gleicherma-
ßen Wissenschaft sowie Ingenieurpraxis
und erstreckt sich bisher auf 97 Länder
aller Kontinente. Bisher wurden mir neun
Ehrendoktorate renommierter ausländi-
scher Universitäten verliehen.“
das tägliche Brot, wir hatten auch bis zu
zwölf weiße Legehennen und zeitweise ei-
nige Kaninchen. Gerne erinnere ich mich
noch an das zarte Gezirpe der männlichen
Maulwurfsgrillen in warmen Sommernäch-
ten, das wir bis ins nahe Bubenzimmer
hören konnten. Im Jahre 1956 bekamen wir
von der Stadtgemeinde Lienz eine Wohnung
in der Weidengasse, die für uns damals eine
wesentliche Verbesserung der Wohnverhält-
nisse bedeutete. Mein Vater konnte erst spät
wieder in seinem angewandt-zoologischen
Beruf in Österreich Fuß fassen und zwar zu-
erst in der Obersteiermark, dann in Kärnten
und ab circa 1960 in Lienz als eine Außen-
stelle der Forstlichen Bundesversuchsan-
stalt in Wien. Mein Vater erwarb später
einen Grund in der Pfarrgasse 19, wo dann
auch unser ‚Hoamatl‘ entstand, das Jahr-
zehnte Mittelpunkt der auseinander gedrif-
teten Familie war.
Ich selbst studierte nach meiner Lienzer
Gymnasialzeit an der Universität in Wien,
Fachrichtung Naturgeschichte und Geogra-
phie, Zoologie und Botanik. Meine Promo-
tion zum Dr. phil. erfolgte im Jahre 1963.
Anschließend war ich zwei Jahre an der
Forstlichen Bundesversuchsanstalt in Wien
beschäftigt. 1965 übersiedelte ich nach
Innsbruck und war dort Assistent am Insti-
tut für Zoologie der Universität. 1976 er-
folgte meine Habilitation und im Jahre 1991
wurde ich a.o. Univ.-Prof. in Innsbruck.“
Walter Gosch
(geb. 1948):
13
„Ich wohnte nach der Pfister mit meinen
Eltern ab 1951 in der 8er-Baracke (die
nordwestlichste, am Böschungsfuß der
heutigen Grafendorferstraße). Als diese
Baracke 1954 abgerissen wurde, übersie-
delten wir in die 9er-Baracke und nach
drei Jahren in den Rindermarkt. In unserer
Baracke wohnten viele Flüchtlinge und
Vertriebene, vorwiegend Russen und su-
detendeutsche Kriegsversehrte. Ich erin-
nere mich gerne an die Bauern am Bren-
nerle (Salcher), von denen wir Gemüse,
A.o. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Schedl
(geb. 1935):
12
„Ich bin mit meiner Familie im Septem-
ber 1946 aus Hannoversch-Münden von
einer schönen Zweifamilienvorstadtsvilla
mit unserem ganzen Hab und Gut in zwei
braunen Viehwaggons in drei Wochen in das
Barackenlager nach Lienz übersiedelt und
zwar in das obere Drittel der 4er-Baracke,
das vorher eine Art Sanitätsbereich war.
Mein Vater lag nach der Kriegsgefangen-
schaft mit Rippenfellentzündung im Lienzer
Krankenhaus und konnte uns in den ersten
Wochen gar nicht helfen. Er wurde als
österreichischer Staatsbürger nach dem
Krieg nach Österreich entlassen und verlor
seine Stelle als Univ.-Prof. in Hannoversch-
Münden. Die Österreicher waren nicht
menschlicher und schoben die bundesdeut-
schen Familien nach Deutschland ab. Die
Übersiedlung in das Barackenlager war für
uns Kinder eine nicht so arge Veränderung
wie für unsere leidgeplagte Mutter. Die Be-
wohner der Baracken waren ganz unter-
schiedlicher Herkunft und beruflicher
Tätigkeit. Noch heute verbindet mich eine
Freundschaft mit Herrn Diplomvolkswirt
Philipp Lassnig von der Nachbarbaracke.
Am Ende unserer Baracke wohnte eine
ältere Frau, die wir sehr gut kannten. Sie
hatte eine Ziege und wir konnten deren
Milch genießen. In der ersten Baracke, der
sogenannten GZ Baracke, wohnte der Mit-
telschulprofessor Pammer mit seiner Fami-
lie und in einer nördlich von uns gelegenen
Baracke eine liebe alte Frau aus dem Grö-
dental, von der ich das Schnitzen lernte. Die
Baracken waren außer den Fundamenten
nur aus Holz, die Installationen sehr primi-
tiv, der Mittelgang breit und mit schlechten
Brettern belegt. Die Dächer waren flach und
mit Teerpappe gedeckt. Bei reichem Schnee-
fall rann das Schmelzwasser in viele Zim-
mer. Abschöpfen war daher immer notwen-
dig. Die vor den Baracken liegenden Grün-
flächen waren zumeist gepflegte Gärten auf
sehr gutem humusreichen Untergrund.
Unser Garten war eine wichtige Quelle für
OSTTIROLER
NUMMER 7-8/2014
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HEIMATBLÄTTER
Hertha Schedl am Ende ihrer 4er-Baracke
mit einem Hühnerstall, 1947/48.
(Privataufnahme in der Sammlung von
Wolfgang Schedl)
Walter Gosch vor der 9er-Baracke, 1952.
(Privataufnahme in der Sammlung
Walter Gosch)