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OSTTIROLER
NUMMER 12/2013
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HEIMATBLÄTTER
dest aber des von seinem Freund entwor-
fenen Altares konzipiert hat. Dieser um-
schloss in Form einer neuromanischen
Rundbogenädikula das Altarblatt weniger
wie ein Rahmen als vielmehr wie ein drei-
dimensionales Gehäuse, dessen – zugege-
ben recht geringe – Tiefe im Gemälde fort-
gesetzt und geschlossen war. Die Vertei-
lung des Helldunkels gibt zu erkennen,
dass es, jenseits der bloßen Modellierung
der Bildgegenstände, eine Lichtquelle an-
nimmt, die sich außerhalb des Bildes, ge-
nauer noch links vor diesem befindet.
Damit aber fällt sie mit dem nördlichen
Fenster des dritten Joches zusammen, wel-
ches das Innere der Kirche naturgemäß
schwächer, dafür aber auch gleichmäßiger
erhellt als sein südseitiges Gegenüber.
Um diese Konstanz auch für den Illusi-
onsraum des Bildes zu sichern, ist dessen
seitliche Abschirmung durch das Altar-
gehäuse von entscheidender Bedeutung,
welche allerdings mit der Entfernung
der originalen Innenausstattung und der
Übertragung des Gemäldes an den rechten
Seitenaltar 1961 vollkommen neutralisiert
worden war. Auch die behutsame Rück-
restaurierung der Jahre 2002/2003 ist
in dieser Hinsicht wenig mehr als eine
Annäherung an die ursprüngliche, auf
einen ganz bestimmten Ort und einen ganz
bestimmten Zusammenhang bezogene
Wirkungsabsicht. Durch den schmalen
Bodenstreifen und den Schatten, den
die Gottesmutter auf die Rückwand wirft,
wird angezeigt, dass dieser Illusionsraum
gerade Platz für die Figurengruppe und
deren Attribute bietet, und kein Hinweis
zwingt uns anzunehmen, dass er sich über
die Begrenzung der Ädikula hinaus dehnt.
Legt man den rotmarmornen Füllungen
am Thron der Madonna ein quadratisches
Format, das von den sichtbaren Daten vor-
erst nicht ableitbar ist, zugrunde, sind sie
nicht mehr, wie auf den ersten Blick, als
Zufallsausschnitt einer beliebig fortsetz-
baren Reihung zu lesen. Ihre Dreizahl legt
vielmehr die Abmessungen der Sockel-
front fest und erweist sich – minimal aus
der mittleren Längsachse des Bildes ver-
schoben – als Teil einer symmetrischen
Gesamtstruktur, die mit einem Betrachter-
standpunkt rechts vor dem Altar rechnet.
Von dort erhält auch die Neigung des
Hauptes der Gottesmutter, hin zum
Betrachter, ihr spezielles Motiv.
Mit der Feststellung, es sei durchaus von
Interesse,
„zu wissen, wie ein Bild, dem
vier- oder fünfmal der Kopf weiter gerückt
oder neu aufgesetzt wurde, sich mit den
Jahren ausmachen wird“
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, gibt der oben
zitierte Beobachter, der das unvollendete
Bild in Defreggers Atelier beschreibt, zu,
dass er den Kontext, für den es bestimmt
war, nicht kennt. Was er als Unzulänglich-
keiten des Genremalers gegenüber dem
Nazarener bemängelt,
„das Nachmalen
der Gewandung nach der Gliederpuppe
bis auf jedes Fältchen und jeden Schmutz-
flecken, ohne das schöne, gefällige Motiv
des Wurfes auswendig zu wissen“
, lässt
sich gerade in diesem Kontext aber als das
Bemühen des Realisten um Präsenz und
um Lebensnähe bewerten.
Gottes Werk und Defreggers Beitrag
Ein Nazarener, und erst recht einer der
dritten Generation, musste sich das Natur-
vorbild nicht mehr mühsam erarbeiten, er
konnte auf das zurück greifen, was die Re-
naissance in dieser Hinsicht geleistet hatte
– auch und vor allem im Zusammenhang
von Altarbild und Sacra Conversazione.
Der Idealismus der Nazarener war dies-
bezüglich betont retrospektiv und sein
Programm längst durch die Tradition sank-
tioniert. Dagegen musste ein Maler realis-
tischer Observanz, wenn er sich schon
auf einen kirchlichen Auftrag einzulassen
bereit war, das Vorbild am unmittelbaren
Sehangebot prüfen, auch auf die Gefahr,
ein Ideal zu verletzen und den sakralen
Stoff zu entweihen. Defregger meisterte
diese Gratwanderung mit Bravour, und die
Zeitgenossen, zumal jene, die das Altarbild
vor Ort gesehen hatten, wussten dies sämt-
lich zu schätzen. Der von ihnen gezogene
Vergleich mit den venezianischen Malern
Giorgione und Giovanni Bellini benennt
auch die Quellen seiner Inspiration.
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Im Jahr 1868 hatte Defregger zusammen
mit Piloty und einigen Studienkollegen
Venedig bereist, und die Altarbilder der
Serenissima mussten ihm noch in lebhafter
Erinnerung sein, als er bald darauf die
Arbeit an der Hl. Familie aufnahm. Im
Gegensatz zu den Nazarenern, welche die
Linie als Ausdrucksträger favorisierten,
kamen die Farb- und Lichtregie der vene-
zianischen Meister und deren virtuose
Wiedergabe stofflicher Reize seinen rea-
listischen Interessen entgegen. Es ist sicher
kein Zufall, dass als einzige Vorarbeit zum
Altarbild sich eine kleine Holztafel erhal-
ten hat, auf der Defregger seine später
noch mehrmals korrigierte Bildidee mit
breiten Pinselzügen farbig skizziert hat.
Die Art, in der hier der Hl. Josef noch nicht
ganz so würdevoll wie in der endgültigen
Fassung sich an den Thronsockel anlehnt,
erinnert sehr an den Hl. Petrus in Tizians
„Madonna des Hauses Pesaro“. Das in den
20er-Jahren des 16. Jahrhunderts für das
linke Seitenschiff der Frari-Kirche gemalte
Altarbild lässt die symmetrische Formen-
strenge der Renaissance weit hinter sich.
Seine asymmetrische, auf den Barock vor-
aus weisende Komposition ist jedoch kein
Selbstzweck: Sie ist im Zusammenhang
mit der Architektur des Altars und des ge-
samten Innenraums als dessen illusionisti-
sche Erweiterung zu verstehen, entfaltet
diese Wirkung aber nicht in der Frontal-
ansicht, sondern in der seitlichen Betrach-
tung vom Kirchenschiff aus.
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Ohne in Abhängigkeit von überlieferten
Schemata zu geraten, sichert Defregger
durch die Berufung auf die venezianischen
Vorbilder seinem Gemälde eine sakrale
Integrität, die für den Realismus und
den Naturalismus der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts durchaus keine Selbst-
verständlichkeit war. Sein Bestreben, dem
gläubigen Publikum lebendige und ver-
Innenaufnahme der Pfarrkirche St. Martin in Dölsach, Zustand 2013.
Foto: Rudolf Ingruber