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OSTTIROLER
NUMMER 12/2009
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HEIMATBLÄTTER
vollkommen andere Eigenschaften besitzt,
zunächst entgegen. So gesehen ist sie
nichts weiter als ein Gegenstand. Die
Frage, ob das Handeln des Künstlers oder
das Rezeptionsverhalten des Publikums
diesen Gegenstand zum Kunstwerk erhebt,
hat Peter Niedertscheider mit einer an ver-
schiedenen Orten variierten Performance
in einem wörtlich verstandenen Sinn „in
den Raum gestellt“ (Abb. 5). Während
mehrerer Stunden bewegte er dabei ein
gutes Dutzend lebensgroßer Aktfiguren
aus Polyester, verschob sie, drehte sie um,
lagerte sie über- und nebeneinander und
definierte so den umgebenden Raum
immer wieder neu. Das Publikum konnte
den Vorgang einmal durch eine Glasfront,
die den Kompositionen als eine Art Pro-
jektionsfläche diente
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, ein andermal in
einem durch den Türrahmen des Ausstel-
lungsraumes begrenzten Bildausschnitt
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verfolgen. Entscheidend dabei war, dass
der Betrachter den Raum nicht durch die
eigene Bewegung erfuhr, und dass sich die
Arbeit des Künstlers nicht in der Herstel-
lung seiner Bildgegenstände erschöpfte,
sondern sich auf deren Stellen und Räumen
ausdehnte, und so mit der Wahrnehmung
des Publikums zeitlich zusammenfiel. Der
Prozess wäre, ähnlich dem Konzept der
Acrylpinselzeichnungen, potenziell endlos
fortsetzbar, hat aber vorerst seit Sommer
2009 im Turm von Schloss Bruck einen
musealen Abschluss gefunden.
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Alfred Hrdlicka, Niedertscheiders einsti-
ger Lehrer an der Hochschule für ange-
wandte Kunst in Wien, wies bekanntlich
den Ausdruck „gegenständlich“ als Anto-
nym des Abstrakten zurück. Eine mensch-
liche Figur, so sein Einwand, sei schließ-
lich kein Gegenstand. Niedertscheiders
Projekt „White Cube“ (2007 bis 2009)
aber versammelt tatsächlich Figuren
und
Gegenstände in einem Raum, den man
aufgrund seiner Einrichtung für ein Wohn-
zimmer im Maßstab 1:3 halten könnte
(Abb. 6). Speisereste und wahllos ver-
streute Wäschestücke lassen zunächst ein
vomAuftritt des Betrachters unterbroche-
nes Gelage vermuten – einen Schnapp-
schuss, wenn man so will, dessen Verwir-
rung sich bei genauerem Hinsehen aller-
dings hauptsächlich darauf zurück führen
lässt, dass die Verteilung von Figuren und
Gegenständen sich nicht an die von den
Raumkoordinaten, den Bodenfliesen und
Mauerkanten, nahegelegte Ordnung hält
und kein erkennbares Kompositionsmuster
aufweist.
Auch die Bewohner in ihren verschiede-
nen Posen, sitzend, hockend, liegend und
sogar schlafend, scheinen in sich gekehrt
neben-, ja gegeneinander zu existieren.
Selbst die innige Beziehung des Liebes-
paares ist trügerisch, denn der männliche
Teil entpuppt sich als Paraphrase des „bar-
berinischen Fauns“, einer hellenistischen
Marmorskulptur, die trotz des modernen
Gewandes nur unter bestimmten Voraus-
setzungen an der Gegenwart teilhaben
kann. Die Suche nach dem integrativen
Zusammenhang entdeckt unweigerlich
Parallelen zum Museum, jenem Ort, an
dem „die Schöpfungen der verschieden-
sten Zeiten und Völker, soweit sie nur
echte Schöpfungen sind, gleichberechtigt
nebeneinander stehen.“
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Und sie entdeckt
schließlich eine ganze Reihe kunstge-
schichtlich relevanter Zitate: barockes
Dekor, Keith Harings Strichmännchen, ein
Kopf, der an Georg Baselitz und Möbel,
die an de Stijl erinnern.
Die Gegenwart vor unseren Augen sich
entwickelnden Lebens aber verdankt das
Ensemble der fantasievollen Behandlung
des Marmors, dessen umfassende Skala
von Verarbeitungszuständen, von glatt
poliert bis pulverisiert, über die Plastik der
Körper hinaus und trotzdem ganz ohne
Farbe, auch deren Stofflichkeit unterschei-
det. In seiner Beschränkung auf die Mar-
morbildhauerei, bei gleichzeitiger Aus-
schöpfung all ihrer Möglichkeiten bezieht
Peter Niedertscheider eindeutig Stellung:
Ähnlich wie in den Acrylpinselzeichnun-
gen, deren späte Ausformung sich von
jeder textuellen Denotation verabschiedet
hat, ist auch hier, im Sinne Marshall
McLuhans, das Medium die Botschaft.
Anmerkungen:
1) Ovid, Metamorphosen, X, 256-258.
2) Ebd., X, 292f.
3) Vgl. Andreas Blühm, Vom Leben zum Bild – vom Bild
zum Leben. Pygmalion im Streit der Künstler, in:
E. Mai u. K. Wettengl (Hg.), Wettstreit der Künste.
Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, Wolfrats-
hausen – München – Köln 2002, 142-151.
4) Vgl. Christiane J. Hessler, Maler und Bildhauer im
sophistischen Tauziehen. Der Paragone in der italieni-
schen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Wettstreit
der Künste, wie Anm. 3, 82-97.
5) 1998 Österreichischer Grafikwettbewerb Innsbruck,
Preis der Raiffeisen Landesbank Tirol; 2002 Anerken-
nungspreis zum Prof. Hilde Goldschmidt-Preis; Paul
Flora Preis, Land Tirol.
6) Die Texte codieren Auszüge aus dem Dao te King und
der Declaration of Human Rights.
7) Vgl. Anm. 4, S. 86.
8) „Aufstellung“, RLB-Atelier Lienz, 3. April 2006.
9) „Bildzeitraum 2“, Galerie Lindner, Wien, 13. Septem-
ber 2006.
10) „Bildzeitraum 3“, Museum Schloss Bruck, Lienz,
23. Juli 2009.
11) Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, 10. Aufl., Salzburg
1983, S. 35.
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren
verantwortlich.
Anschrift des Autors dieser Nummer: Mag.
Rudolf Ingruber, A-9900 Lienz, Ruefenfeldweg
2b.
Manuskripte für die „Osttiroler Heimatblät-
ter“ sind einzusenden an die Redaktion des
„Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Pizzinini,
A-6176 Völs, Albertistraße
2 a.
Abb. 6, „White Cube“, Laaser Marmor, 2007 bis 2009.